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MAX HORKHEIMER - Materialismus und Moral - 1933

Mai 2019
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Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Immanuel Kant, Grundform des Kategorischen Imperativs 1785

 

Zeitschrift für Sozialforschung

Herausgegeben im Auftrag des INSTITUTS FÜR SOZIALFORSCHUNG von Max Horkheimer

Jahrgang II 1933 Heft 2, LIBRAIRIE FÉLIX ALCAN / PARIS, September 1933.

Max Horkheimer,
Professor der Sozialphilosophie.

Die Aufteilung auf Seiten wurde beibehalten, soweit es die Anmerkungen zuließen und aufgeteilte Sätze dahingehend korrigiert, ansonsten ganz weggelassen. [Sig.]

 

Materialismus und Moral.

Von
Max Horkheimer.

Dass die Menschen selbständig die Frage zu entscheiden versuchen, ob ihre Handlungen gut oder böse seien, ist offenbar eine späte geschichtliche Erscheinung. Während ein hoch entwickeltes europäisches Individuum nicht bloss wichtige Entschlüsse, sondern auch die meisten instinkthaften und zur Gewohnheit gewordenen Reaktionen, aus denen sich sein Leben zum grössten Teil zusammensetzt, vor das Licht des klaren Bewusstseins bringen und moralisch bewerten kann, erscheinen die menschlichen Handlungen als umso zwangsmässiger, je früheren geschichtlichen Bildungen ihre Subjekte angehören. Die Fähigkeit, triebhafte Reaktionen moralischer Kritik zu unterziehen und auf Grund individueller Bedenken zu verändern, konnte sich erst mit steigender Differenzierung der Gesellschaft herausbilden. Schon das Autoritätsprinzip des Mittelalters, von dessen Erschütterung die moralische Fragestellung der Neuzeit ihren Ausgang nimmt, ist der Ausdruck einer späten Phase dieses Prozesses. War bereits der ungebrochene religiöse Glaube, welcher der Herrschaft dieses Prinzips vorherging, eine reichlich komplizierte Vermittlung zwischen naivem Erlebnis und triebhafter Reaktion, so bezeichnet das mittelalterliche Kriterium der von der Kirche gutgeheissenen Tradition, dessen ausschliessliche Geltung freilich noch einen stark zwangshaften Charakter trug, bereits einen moralischen Konflikt. Wenn Augustin ¹) erklärt: „Ego vero evangelio non crederem nisi me catholicae ecclesiae commoveret auctoritas", so setzt diese Bekräftigung, wie Dilthey ²) erkannt hat, bereits den Zweifel im Glauben voraus. Der gesellschaftliche Lebensprozess der neueren Zeit hat nun die menschlichen Kräfte so stark gefördert, dass wenigstens die Mitglieder einzelner Schichten in den fortgeschrittensten Ländern in einem verhältnismässig weiten Bereich ihres Daseins nicht bloss dem Instinkt oder der Gewohnheit folgen, sondern unter mehreren vorgestellten Zielen selbständig zu wählen vermögen. Die Ausübung dieser Fähigkeit geschieht freilich in viel kleinerem Umfang, als gemeinhin angenommen wird.

¹) C. ep. Manich. 6
²) Vgl. Gesammelte Schriften II. Band, Leipzig und Berlin 1921, S. 110 ff.

Wenn auch die Besinnung über die Technik, die Erwägungen über die Mittel, welche zu einem vorgegebenen Zweck anzuwenden sind, auf manchen Gebieten des gesellschaftlichen und individuellen Lebens sich äusserst verfeinert haben, so pflegen doch die Ziele der Menschen starr festzustehen. Gerade in den Handlungen, welche in ihrer Summe sozial und geschichtlich wichtig sind, verhalten sich die Menschen im allgemeinen ganz typisch, das heisst so, wie es einem bestimmten, für ihre gesellschaftliche Gruppe kennzeichnenden Schema von Beweggründen entspricht. Nur bei nicht lebenswichtigen privaten Angelegenheiten pflegen die Menschen ihre Beweggründe hin und wieder gewissenhaft zu prüfen und ihre intellektuellen Kräfte auf die Zielsetzungen anzuwenden. Immerhin ist innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaftsform, besonders in ihrer Jugend, die Frage nach den richtigen Zielen mit Energie gestellt worden. Als das Prinzip der Autorität erschüttert war und eine bedeutende Anzahl von Individuen die Entscheidung über ihre Lebensführung weitgehend in eigener Hand hatte, entstand das Bedürfnis nach einer geistigen Richtschnur, die bei der Einrichtung des Einzelnen in dieser Welt die Stelle der untergehenden Instanzen einnehmen konnte. Während für die Mitglieder der höheren sozialen Schichten die Gewinnung moralischer Prinzipien deshalb wichtig war, weil sie kraft ihrer Stellung fortwährend eingreifende Entscheidungen zu treffen hatten, die früher durch die Autorität ihnen abgenommen waren, wurde eine rational begründete Moral zur Beherrschung der Massen im Staat umso notwendiger, als eine von ihren Lebensinteressen abweichende Handlungsweise von ihnen gefordert war.

Die idealistischen Philosophen der neueren Zeit sind bestrebt gewesen, diesem Bedürfnis durch die Aufstellung von Grundsätzen zu genügen. Gemäss den Verhältnissen, welche den Menschen seit der Renaissance auf sich selbst anwiesen, suchten sie diese Maximen durch Vernunft, das heisst durch prinzipiell allgemein zugängliche Gründe zu beglaubigen. So verschieden etwa die Systeme Leibnizens, Spinozas und der Aufklärung immer sein mögen, so zeugen sie doch alle von der Bemühung, aus der ewigen Verfassung der Welt und des Menschen ein bestimmtes Verhalten als das ein für allemal angemessene zu begründen. Sie erheben daher Anspruch auf unbedingte Gültigkeit. Die als richtig bezeichneten Masstäbe sind freilich meist allgemein gehalten und geben — abgesehen von einigen materialistischen und kämpferischen Theorien der französischen Aufklärung — nur wenige bestimmte Anweisungen. Das Leben hat in den letzten Jahrhunderten ebenso wie von der Religion auch von der Moral allzuviel Anpassungsfähigkeit verlangt, als dass inhaltlich durchgearbeitete Vorschriften auch nur den Schein von Ewigkeit hätten bewahren können. Selbst moderne Ethiker, die den Formalismus früherer Morallehren entschieden angreifen, weichen darin keineswegs von ihnen ab. „Ethik lehrt nicht direkt, was hier und jetzt geschehen soll, in gegebener Sachlage“, schreibt Nicolai Hartmann ¹), „sondern allgemein, wie dasjenige beschaffen ist, was überhaupt geschehen soll... Ethik schafft eine allgemeine Grundlage, von der aus das Aktuelle objektiv wie aus der Vogelschau gesehen wird”. Die idealistische Moralphilosophie erkauft den Glauben an ihre eigene Unbedingtheit damit, dass sie selbst nicht auf einen geschichtlichen Augenblick bezug nimmt. Sie ergreift keine Partei. Mögen ihre Anschauungen noch so sehr einer Gruppe der geschichtlich miteinander kämpfenden Menschen entsprechen oder zugute kommen, so schreibt sie doch keine Stellungnahme vor. Hartmann erklärt: „Was der Mensch tun soll, wo er vor den ernsten verantwortungsvollen Konflikt gestellt ist, ist eben dieses: nach „bestem Gewissen“ entscheiden, das heisst nach seinem eigenen lebendigen Gefühl der Werthöhe entscheiden...” ²). Die Ethik „mischt sich nicht in die Konflikte des Lebens, gibt keine Vorschriften, die auf diese gemünzt wären, ist kein Kodex von Geboten und Verboten wie das Recht. Sie wendet sich gerade an das Schöpferische im Menschen, fordert es heraus, in jedem Fall neu zu erschauen, gleichsam zu divinieren, was hier und jetzt geschehen soll" ³). Die Moral gilt dabei als ewige Kategorie. Ebenso wie die Beurteilung von Sätzen nach Wahrheit und Unwahrheit, von gegenständlichen Gebilden nach Schönheit und Hässlichkeit zum menschlichen Wesen gehöre, soll auch die Beurteilung von Charakteren und Handlungen, ob sie gut oder böse seien, immer möglich sein. Trotz der heftigsten Diskussionen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer ewigen Moral verstehen sich die neueren Philosophen über ihren Begriff. Die Wandelbarkeit des Inhalts, das Angeborensein einzelner Sätze wird behauptet und bestritten, aber die Fähigkeit zum moralischen Werturteil gilt in der Regel als ein der theoretischen Erkenntnis mindestens ebenbürtiger Grundzug der menschlichen Natur. Eine neue Kategorie von Tugend ist seit der Renaissance in die Philosophie gekommen: die moralische Tugend. Sie hat weder mit den ethischen Vorstellungen der Griechen, die den besten Weg zur Glückseligkeit betrafen, noch mit der religiösen Ethik des Mittelalters viel gemein.

¹) Ethik, Berlin und Leipzig 1926, S. 3.
²) a. a. O., S. 422.
³) a. a. O., S. 3 f.

Obgleich Verbindungen zwischen ihr und diesen Erscheinungen bestehen, hat das neuere Moralproblem in den Grundzügen der bürgerlichen Ordnung seine Wurzeln. So wie manche wirtschaftlichen Elemente dieser Ordnung sich auch in früheren Formen der Gesellschaft finden, treten gewiss auch Züge dieses Problems in ihnen auf; es selbst kann jedoch nur aus der allgemeinen Lebenssituation der jetzt zu Ende gehenden Epoche verstanden werden.

In Kants Formulierung des kategorischen Imperativs kommt die Moralvorstellung des Bürgertums zum reinsten Ausdruck. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde ¹).“ Handlungen, welche diesem Prinzip entsprechen und unmittelbar um seinetwillen geschehen, unterscheiden sich nach Kant von allen übrigen durch die Eigenschaft der Moralität. Er selbst hat erklärt, worin „das spezifische Unterscheidungszeichen” ²) dieses Imperativs von allen anderen Regeln des Handelns zu suchen sei: in der „Lossagung von allem Interesse". Mag auch die Vernunft selbst an moralischen Handlungen ein reines und unmittelbares Interesse nehmen ³), so geschehen sie doch nicht aus Interesse am Gegenstand, nicht aus Bedürfnis. Das Handeln aus Pflicht wird dem aus Interesse entgegengesetzt. Die Tugend besteht zwar nicht darin, dass entgegen den individuellen Zwecken, aber darin, dass unabhängig von ihnen gehandelt werde. Der Mensch soll sich von seinem Interesse freimachen.

Kants Ansicht wurde bekanntlich von den verschiedensten Richtungen, unter anderem von Schiller und Schleiermacher, bekämpft. Interesseloses Handeln wurde sogar für unmöglich erklärt. „Was ist ... ein Interesse anderes als die Einwirkung eines Motivs auf den Willen. Wo also ein Motiv den Willen bewegt, da hat er ein Interesse: wo ihn aber kein Motiv bewegt, da kann er wahrlich so wenig handeln, als ein Stein ohne Stoss oder Zug von der Stelle kann", sagt Schopenhauer ⁴). Gewiss wollte Kant unter dem moralischen Handeln keines ohne Motiv verstanden wissen, wenn er auch das Handeln aus Interesse als das natürliche Gesetz des Menschen angesehen hat. Die moralische Triebfeder liegt dagegen in der Achtung vor dem Sittengesetz.

¹) Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, II. Abschn., Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 421.
²) a. a. O., S. 431.
³) a. a. O., S. 448 ff.
⁴) Grundlage der Moral, Sämtl. Werke, herausgegeb. v. Deussen, 3. Bd., München 1912, S. 635.

Aber das eine hat Schopenhauers Kritik, die er durch die Ausführung seiner eigenen Ethik ins Positive wandte, richtig getroffen: die wirklichen Gründe seines Tuns bleiben dem im Kantschen Sinn moralisch Handelnden verborgen. Weder ist ihm bekannt, warum das Allgemeine über dem Besonderen stehen soll, noch wie im Einzelfall der Einklang richtig herzustellen ist. Der Imperativ, der „von selbst im Gemüte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt ¹)", lässt das Individuum in einer bestimmten Unruhe und Unklarheit. In seiner Seele spielt sich ein Kampf zwischen dem persönlichen Interesse und der vagen Vorstellung des Gesamtinteresses, zwischen individueller und allgemeiner Zweckmässigkeit ab. Doch ist nicht zu ersehen, wie eine vernünftige Entscheidung nach Kriterien zwischen beiden möglich sei. Es entsteht eine unendliche Reflexion und fortwährende Bekümmerung, die grundsätzlich nicht zu überwinden ist. Weil diese Problematik, die sich im Innern der Menschen abspielt, notwendig aus ihrer Rolle im gesellschaftlichen Lebensprozess hervorgeht, ist die Kantische Philosophie, als ihr getreuer Spiegel, ein vollendeter Ausdruck ihrer Zeit.

Die Besinnung auf die Struktur der bürgerlichen Ordnung lässt die Grundlage des in Rede stehenden seelischen Zustands leicht erkennen. Das gesellschaftliche Ganze lebt durch Entfesselung der Eigentumsinstinkte aller Einzelnen. Indem sie sich um Gewinn, Erhaltung und Vermehrung von eigenem Besitz bekümmern, wird es erhalten. Jedem ist anheim gegeben, für sich zu sorgen, so gut er kann. Weil er dabei aber notwendig leisten muss, was andere brauchen, setzen sich mittels der scheinbar selbständigen, das eigene Wohl bezweckenden Tätigkeiten die Bedürfnisse der Allgemeinheit durch. Der Sachverhalt, dass in dieser Ordnung die Produktion der gesamtgesellschaftlichen Existenz mit dem Streben der Subjekte nach Besitz zusammenfällt, hat ihren psychischen Apparat geprägt. In allen Perioden haben sich die Menschen ihrem ganzen Sein nach an die Lebensbedingungen der Gesellschaft angepasst; eine Folge dieser Anpassung in der neueren Zeit ist, dass die menschlichen Kräfte sich auf Beförderung des individuellen Vorteils einstellen. Weder das Gefühl des Individuums noch sein Bewusstsein, weder die Form seines Glücks noch seine Vorstellung von Gott entziehen sich diesem das Leben beherrschenden Prinzip. Selbst in den feinsten und scheinbar entferntestem Regungen der Person macht sich die Funktion noch geltend, welche sie in der Gesellschaft ausübt. Der ökonomische Vorteil ist in dieser Epoche das natürliche Gesetz, unter dem das individuelle Leben steht.

’) Kritik der praktischen Vernunft, Ausg. v. 1788, S. 154, Ak.-Ausg. Bd. 5, S. 86.

Diesem natürlichen Gesetz der Einzelnen hält der kategorische Imperativ das „allgemeine Naturgesetz“, das Lebensgesetz der menschlichen Gesellschaft als ein Richtmass vor. Dies wäre sinnlos, wenn die besonderen Interessen und die Bedürfnisse der Allgemeinheit nicht höchst ungenau, sondern mit Notwendigkeit ineinander griffen. Dass dies aber nicht geschieht, ist der Mangel der bürgerlichen Wirtschaftsform: Zwischen dem freien Wettbewerb der Individuen als dem Mittel und der Existenz der Gesamtgesellschaft als dem Vermittelten besteht keine vernünftige Beziehung. Der Prozess vollzieht sich nicht unter der Kontrolle eines bewussten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allgemeinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen Betriebsamkeit der Individuen, der Industrien und der Staaten. Diese Irrationalität drückt sich in dem Leiden der Mehrzahl aller Menschen aus. Der Einzelne, ganz von der Sorge um sich selbst und das „Seine” in Anspruch genommen, fördert daher das Leben des Ganzen nicht bloss ohne klares Bewusstsein, sondern er bewirkt durch seine Arbeit ausser dem Glück der anderen auch noch ihr Elend; nie kann es ganz offenbar werden, inwieweit und für welche Individuen seine Arbeit das eine oder das andere bedeutet. Der Gedanke an die Allgemeinheit lässt sich in kein eindeutiges Verhältnis zur eigenen Arbeit bringen. Dieses Problem, das nur die Gesellschaft selbst durch planmässige Einbeziehung jedes Mitglieds in ihren bewusst geleiteten Arbeitsprozess vernünftig lösen könnte, taucht in der bürgerlichen Epoche als Konflikt im Innern ihrer Subjekte auf.

Bei der Befreiung des Individuums aus den übergreifenden Einheiten des Mittelalters hat es zwar das Bewusstsein von sich als einem selbständigen Wesen erhalten. Dieses Selbstbewusstsein ist jedoch abstrakt: die Weise, in der jeder Einzelne durch seine Arbeit den Gang der Gesamtgesellschaft mitbewirkt und wiederum von ihm beeinflusst wird, bleibt ganz im Dunkeln. Alle sind an der guten oder schlechten Entwicklung der Gesamtgesellschaft mitbeteiligt, und doch erscheint sie als Naturgeschehen. Die Rolle in diesem Ganzen, ohne die kein Individuum in seinem Wesen zu bestimmen ist, wird nicht gesehen. Jeder hat daher notwendig ein falsches Bewusstsein von seiner Existenz, die er bloss als Inbegriff vermeintlich freier Entschlüsse mit psychologischen Kategorien zu begreifen vermag. Mangels vernünftiger Organisation des gesellschaftlichen Ganzen, dem doch seine Arbeit gilt, kann er sich in seiner wahren Beziehung zu ihm nicht erkennen und weiss von sich nur als einem Einzelnen, den auch das Ganze etwas angeht, ohne dass ihm jemals klar wird, was und wieviel er wirklich durch sein egoistisches Tun an ihm bewirkt. Das Ganze erscheint daher als Mahnung, als Forderung und beunruhigt im Ruf des Gewissens, im moralischen Bedenken gerade die fortschrittlichen Individuen bei ihrer Arbeit ¹).

Der Materialismus versucht — und zwar nicht bloss so all gemein, wie es soeben angedeutet wurde, sondern den verschiedenen Perioden und Gesellschaftsklassen besonders Rechnung tragend die wirklichen Verhältnisse aufzuzeigen, aus denen das moralische Problem hervorgeht und die sich, wenn auch in verzerrter Weise, in den moralphilosophischen Lehren spiegeln. Die Idee der Moral, so wie Kant sie formuliert hat, enthält die Wahrheit, dass die Handlungsweise unter dem natürlichen Gesetz des ökonomischen Vorteils nicht zugleich notwendig die vernünftige ist. Sie setzt dem Interesse des Einzelnen nicht etwa das Gefühl oder gar die Rückkehr zum blinden Gehorsam entgegen; weder das Interesse noch die Vernunft wird verlästert, sondern die Vernunft erkennt, dass sie nicht bloss dem natürlichen Gesetz, dem Vorteil des Einzelnen, zu dienen braucht, dann nämlich, wenn sie das Naturgesetz des Ganzen mit in ihren Willen aufnimmt. Der Einzelne kann freilich die Forderung, das Ganze vernünftig zu gestalten, nicht erfüllen. Die Beherrschung des Gesamtprozesses der Gesellschaft durch den Menschen lässt sich nur vollziehen, wenn diese ihre anarchische Form überwindet und sich als reales Subjekt konstituiert, das heisst also durch geschichtliche Tat. Diese entspringt nicht dem Einzelnen, sondern einer Konstellation gesellschaftlicher Gruppen, in deren Dynamik das Gewissen freilich eine wichtige Rolle spielt. Die moralische Unruhe belastet keineswegs bloss die Arbeit der Individuen im Produktionsprozess, ihr gesamtes Dasein wird davon getroffen. Wo immer die Menschen dem Gesetze folgen, das ihnen in dieser Gesellschaft natürlich ist, besorgen sie unmittelbar bloss die Angelegenheiten des Interessensubjekts, das ihren eigenen Namen trägt. Sofern die Vernunft des bürgerlichen Einzelnen über seine Sonderzwecke hinausreicht, sofern er nicht bloss dieser bestimmte X mit seinen privaten Sorgen und Wünschen ist, sondern sich zugleich fragen kann, was ihn diese Sorgen des X, selbst wenn sie unmittelbar sein persönliches Dasein betreffen, eigentlich angehen, sofern er also nicht bloss dieser sondern ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist, regt sich ihm der „autonome" Wille, den Kants Gebot formuliert. Fremdes Interesse gilt dabei, wie Kant folgerichtig auseinandersetzt ²), als ebenso zufällig wie das eigene, denn auch das Verhältnis der Bestrebungen des Y zum Leben der Allgemeinheit ist in der Regel für den X nicht durchsichtiger als seines. Wer in der ökonomischen Situation des Bürgers den ganzen Konflikt nicht zu erleben vermag, ist hinter der Entwicklung zurückgeblieben, es fehlt ihm eine Reaktionsform, die zum Menschen dieser Epoche gehört.

¹) Die psychologische Theorie des Gewissens, wie sie Freud zum Beispiel in der Schrift „Das Ich und das Es" (Gesammelte Schriften, Wien, Bd. 6, S. 372 ff., bes. S. 381) unternommen hat, ist mit dieser Erklärung durchaus zu vereinbaren. Die Psychologie gibt Auskunft über den Mechanismus, durch welchen der Sinn für Moral sich fortpflanzt und im Individuum feste Wurzeln schlägt. Der Existenzgrund für diesen Mechanismus liegt jedoch tiefer als in der Einzelseele.
²) Vgl. z. B. Grundlegung, a. a. O., S. 433.

Die Moral wird vom Materialismus daher keineswegs etwa als blosse Ideologie im Sinne falschen Bewusstseins verworfen. Sie gilt als menschliche Erscheinung, die während der Dauer des bürgerlichen Zeitalters gar nicht zu überwinden ist. Ihr philosophischer Ausdruck ist jedoch in vieler Hinsicht verzerrt. Vor allem liegt die Lösung des Problems nicht in der Befolgung fest formulierter Gebote. Bei dem Versuch, den Kantischen Imperativ wirklich anzuwenden, stellt sich sogleich heraus, dass damit der Allgemeinheit, um welche der moralische Wille ja bekümmert ist, gar nicht zu helfen wäre. Selbst wenn alle ihm nachkämen, selbst wenn alle in seinem Sinn ein tugendhaftes Leben führten, herrschte dieselbe Verwirrung wie zuvor. Nichts Wesentliches wäre verändert.

Die vier Beispiele, die Kant selbst für moralisches Handeln bringt, setzen diese Ratlosigkeit und Ohnmacht des guten Willens in helles Licht: Im ersten wendet sich ein Verzweifelter im Hinblick auf das moralische Gesetz vom Selbstmord ab. Die Fragwürdigkeit seines Entschlusses ist jedoch so offenkundig, dass der Leser darüber erstaunt, warum Kant nicht ernsthaft auf sie eingeht. Warum sollte ein Mensch, „der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruss am Leben empfindet ¹)“, nicht zugleich wollen können, dass die Maxime dieser Handlung ein allgemeines Gesetz werde? Ist diese Welt nicht vielmehr so beschaffen, dass der Vernünftige die Möglichkeit jenes Auswegs als Trost empfinden muss? Humes Abhandlung über den Selbstmord, in welcher dieser Philosoph sich als wahrer Aufklärer erweist, ist freilich vor der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” veröffentlicht und lange vorher geschrieben worden, sie mutet jedoch wie eine Antwort auf Kants absonderliche Meinung an. „Ein Mensch, welcher sich aus dem Leben zurückzieht", heisst es dort, „fügt der Gesellschaft kein Leid zu, er hört bloss auf, ihr Gutes zu tun, was, wenn es ein Unrecht ist, ein Unrecht von der geringsten Art ist... Aber man setze den Fall, dass es nicht mehr in meiner Macht steht, das Interesse der Gesellschaft zu fördern, dass ich ihr eine Last bin, dass mein Leben eine andere Person verhindert, der Gesellschaft viel mehr zu nützen: in solchem Fall muss mein Verzicht auf das Leben nicht bloss schuldlos, sondern löblich sein.

¹) a. a. O., S. 421.

Und die meisten Menschen, welche in die Versuchung kommen, das Dasein zu verlassen, sind in solcher Lage; diejenigen, welche Gesundheit und Kraft und Ansehen haben, neigen gewöhnlich zur Zufriedenheit mit der Welt" ¹). Wie gewunden erscheint gegen diese Stimme die von Kant angeführte Überlegung, welche von den Gegensätzen in der Gesellschaft keine Notiz nimmt! Im zweiten Beispiel vermeidet einer, sich durch das falsche Versprechen späterer Rückgabe Geld zu verschaffen. Wenn dies jeder so machen wollte — so lässt ihn Kant moralisch reflektieren — , würde am Ende kein Versprechen mehr ernst genommen. Um das Beispiel zu prüfen, bedürfte es des Wissens, zu welchem Zweck das Geld verwendet werden soll und wie das Verhältnis der beiden Kontrahenten beschaffen ist. Es gibt Fälle, in denen Kant die von ihm als moralisch bezeichnete Lösung nur mit ebenso viel Künstlichkeit zu verteidigen vermöchte, wie er es bei anderer Gelegenheit aus Anlass der Lüge überhaupt versucht hat. ²) Im dritten Beispiel erweist sich das Absehen von der Wirklichkeit noch verhängnisvoller als im ersten. Ein reicher Mann findet in sich ein Talent, ist aber zu bequem, es auszubilden. Kant meint, er könne unmöglich wollen, dass alle anderen in seiner Lage müssig blieben, und müsse deshalb sich der Mühe unterziehen. Doch entgegen der Ansicht Kants hielte die Vorstellung, dass der Wille des begabten Mannes alle Konkurrenten — wenn solche überhaupt vorhanden sind — auf den Plan riefe, ihn sicher davon ab, sich im entferntesten mit dieser Sache abzugeben. Soll er sich der harten Schule unterziehen, so muss er im Rahmen dieser Konkurrenzgesellschaft gerade wünschen, dass sein Wille nicht zur allgemeinen Regel werde. Das vierte Beispiel handelt von der Wohltätigkeit. Sie wird darin weniger durch die Achtung vor dem Sittengesetz als durch den nicht sehr zugkräftigen Hinweis, dass auch der Reiche ihrer selbst einmal bedürfen könne, zu empfehlen gesucht. Wenn es sich in diesem Beispiel nicht um einen Bettelpfennig, sondern um wirklich verlockende Beträge handeln soll, dann wird der Reiche ganz mit Recht die sichere Gegenwart der fraglichen Zukunft vorziehen. Sollte das Problem aber nicht egoistisch, sondern im Kantschen Sinn moralisch, das heisst im Hinblick auf die Allgemeinheit zur Erörterung stehen, so wird sich die Theorie des Reichen, was für diese gut sei, gar sehr von der des Bettlers unterscheiden: aufrichtigen Herzens wird er grosse Abgaben als schädlich erklären. Geht es gar um Höheres, etwa um soziale Lasten oder den Arbeitslohn, dann wird es ebenso viele Überzeugungen darüber geben, was zum allgemeinen Gesetz tauge, wie es gesellschaftliche Gruppen gibt.

¹) Hume, Abhandlung über den Selbstmord. Übers. v. Paulsen, Philos. BibL bei Meiner, Leipzig, Bd. 36, 3. Aufl., S. 154.
²) Vgl. Ak.-Ausg., Bd. 8, S. 425 ff.

Damit, dass jeder nach seinem Gewissen handelt, hört weder das Chaos noch das Elend auf, welches daraus hervorgeht. Die formale Anweisung, mit sich selbst im reinen zu bleiben, einen widerspruchslosen Willen zu haben, bildet keine Richtschnur, welche den Grund der moralischen Unruhe beheben könnte. Gibt es eine Schandtat, die nicht schon einmal mit gutem Gewissen begangen worden wäre? Nicht dass die Einzelnen ihr Handeln mit dem Naturgesetz der Allgemeinheit für vereinbar halten, sondern inwieweit es auch in Wirklichkeit damit vereinbar ist, gibt den Ausschlag für das Glück der Menschheit. Die Meinung, dass der gute Wille — ein wie wichtiger Impuls er immer sein mag — das einzig Gute sei, die Bewertung der Handlung bloss nach dem, was sie meint, und nicht auch nach dem, was sie im jeweiligen historischen Augenblick real bedeutet, ist idealistischer Wahn. Von dieser ideologischen Seite des Kantischen Moralbegriffs führt ein unmittelbarer Weg zu der modernen Mystik des Opfers und Gehorsams, die sich sonst nur mit Unrecht auf Kant beruft. Wenn als höchstes Ziel Entfaltung und glückliche Betätigung der in der Allgemeinheit angelegten Kräfte gelten soll, so genügt es keineswegs, auf ein tugendhaftes Innere, auf den blossen Geist, etwa auf Unterdrückung der Eigentumsinstinkte durch Disziplin, zu sehen, sondern darauf, dass die äusseren Veranstaltungen, welche jenes Glück bewirken können, auch wirklich geschehen. Nicht allein, wie die Menschen etwas tun, sondern was sie tun, ist wichtig: gerade wo alles auf dem Spiel steht, kommt es weniger auf die Motive derer an, die dem Ziel nachstreben, als darauf, dass sie es erreichen. Gewiss lassen sich auch Gegenstand und Situation nicht ohne das Innere der handelnden Menschen bestimmen, denn Inneres und Äusseres sind in der Gesamtgeschichte ebenso wie im Leben des Einzelnen Momente vielfältiger dialektischer Prozesse. Aber die in der bürgerlichen Moral herrschende Tendenz, ausschliesslich auf die Gesinnung Wert zu legen, erweist sich, besonders in der Gegenwart, als eine den Fortschritt hemmende Einstellung. Nicht Pflichtbewusstsein, Begeisterung, Opfer schlechthin, sondern Pflichtbewusstsein, Begeisterung, Opfer wofür entscheidet angesichts der herrschenden Not über das Schicksal der Menschheit. Opferbereiter Wille mag freilich im Dienst jeder Macht, auch der rückschrittlichsten, ein gutes Mittel sein; über das Verhältnis, in welchem sein Inhalt zur Entwicklung der Gesamtgesellschaft steht, gibt aber nicht das Gewissen Auskunft, sondern die richtige Theorie.

Bei Kant bildet dieser idealistische Zug, nach welchem die Welt schon in Ordnung sein soll, wenn nur im Geiste alles in Ordnung sei, dieser Mangel an Unterscheidung zwischen Phantasie und Wirklichkeit, durch den die idealistische Philosophie sich als verfeinerte Form des primitiven Glaubens an die Allmacht der Gedanken, das heisst die Zauberei, erweist, bloss eine Seite seiner Lehre. Sie hat auch eine sehr aktive Beziehung zur Wirklichkeit. Der kategorische Imperativ stösst, wie oben zu zeigen versucht wurde, in dieser Gesellschaft von isolierten Einzelnen auf die Unmöglichkeit seiner sinnvollen Verwirklichung. Die Veränderung dieser Gesellschaft ist daher seine notwendige Konsequenz. Mit ihr müsste auch eben dieser Einzelne, an den der Imperativ sich wendet und in dessen Formung er sein einziges Ziel zu haben scheint, verschwinden. Die bürgerliche Moral treibt zur Aufhebung der Ordnung, von der aus sie erst möglich und notwendig ist. Wenn die Menschen so handeln wollen, dass ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz taugt, müssen sie eine Ordnung herbeiführen, in der diese Erwägung nicht so fragwürdig bleibt wie in den von Kant genannten Fällen, sondern in der sie wirklich nach Kriterien anzustellen ist. Die Gesellschaft muss dann so beschaffen sein, dass sie ihre eigenen Interessen und zwar aller ihrer Mitglieder auf rationalem Wege feststellt: nur unter dieser Voraussetzung ist es für den Einzelnen, der sich selbst an einem solchen Plan subjektiv und objektiv beteiligt findet, sinnvoll, sein Leben danach einzurichten. Wenn in der modernen Ethik anstatt dieses dynamischen, über die gegebenen Verhältnisse hinausweisenden Zugs von Kants Ansicht gerade ihr negativer entfaltet wird, nämlich der die Veränderung hintertreibende Subjektivismus, so liegt der Grund weniger bei Kant als in der seither abgelaufenen Geschichte.

Die Kantische Lehre enthält zwar den unmöglichen Begriff eines ewigen, an das freie Subjekt ergehenden Gebots, aber sie schliesst zugleich Tendenzen ein, in welchen das Ende der Moral vorweggenommen ist. In ihr kommt der Widerspruch zum Ausdruck, mit dem das Bürgertum während seiner ganzen Epoche behaftet war: es hat eine Ordnung geschaffen und an ihr festgehalten, die zu seinem eigenen Begriff von Vernunft in Spannung steht. Kant behauptet die Absolutheit der Moral und muss notwendig ihre Aufhebung verkünden, sie als vergänglich ansehen. Die Moral beruht auf dem Unterschied von Interesse und Pflicht. Die Aufgabe, beide zu vereinigen, ist der bürgerlichen Gesellschaft von ihren Vorkämpfern gestellt worden, aber kaum die philosophischen Vertreter des „wohlverstandenen Selbstinteresses“ (Bentham) haben gewagt, sie als erfüllt zu erklären. Dies ist in der herrschenden Gesellschaftsform unmöglich, denn in ihr hat die Menschheit weder Stimme noch Bewusstsein, es sei denn als Theorie, welche die jeweils fälschlich sich als Allgemeinheit aufspreizenden partikularen Interessen und Mächte im Widerspruch mit der öffentlichen Meinung kritisiert. Dass die Voraussetzung der Moral im bürgerlichen Sinn, der Unterschied von besonderen und allgemeinen Interessen, durch geschichtliche Tat verschwinden könne, ist eine Lehre, die der materialistischen Anthropologie des Bürgertums schon früh geläufig war. Man kann die Menschen, sagt Helvetius ¹), „nur glücklich machen, wenn man ihr persönliches Interesse mit dem allgemeinen vereinigt. Unter Voraussetzung dieses Prinzips ist es offenbar, dass die Moral nur eine eitle Wissenschaft ist, wenn man sie nicht mit der Politik und der Gesetzgebung verschmilzt, woraus ich schliesse, dass die Philosophen, wenn sie sich dabei nützlich erweisen wollen, die Gegenstände vom gleichen Gesichtspunkt aus wie der Gesetzgeber betrachten müssen. Ohne freilich vom gleichen Geist beseelt zu sein. Des Moralisten Sache ist es, die Gesetze zu bezeichnen, der Gesetzgeber sichert ihre Ausführung, indem er ihnen das Siegel seiner Macht aufdrückt.”

Auch Kant hat die Vereinigung von Glück und Pflicht in einer besseren Gesellschaft für möglich gehalten. Es gibt für ihn „keinen Streit der Praxis mit der Theorie ²)“, „die reinen Rechtsprinzipien haben objektive Realität, d. i., sie lassen sich ausführen ³)”. Es ist seine Überzeugung, dass die Politik es zu ihrer eigentlichen Aufgabe habe, mit „dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit)“ ⁴) zusammenzustimmen. Keineswegs dürfen politische Maximen freilich „von der aus ihrer Befolgung zu erwartenden Wohlfahrt und Glückseligkeit eines jeden Staats, also nicht vom Zweck, den sich ein jeder derselben zum Gegenstand macht... ausgehen ⁵)”. Als Allgemeinheit darf sich also weder ein einzelner Staat noch irgendeine Machtgruppe hinstellen. Auf die Übereinstimmung der Einzelinteressen mit denjenigen solcher Partikularitäten kommt es nach Kant in der echten Politik letzten Endes gar nicht an, sondern vielmehr auf die Erreichung des Zieles, dessen Prinzip durch reine Vernunft gegeben ist. Wenn er dieses Ziel nicht als Zustand des grösstmöglichen Glücks, sondern als Verfassung der grössten menschlichen Freiheit nach Gesetzen bestimmen wollte ⁶), so hat er doch zwischen dieser Freiheit und jenem Glück keinen Gegensatz gelten lassen, sondern erklärt, dass das eine von selbst aus der anderen folge.

¹) De l’esprit. CEuvres completes, T. I. London 1780, S. 206.
²) Zum ewigen Frieden, Anh. I, Ak.-Ausg., Bd. 8, S. 370.
³) a. a. O., S. 380.
⁴) a. a. O., S. 386.
⁵) a. a. O., S. 379.
⁶) Vgl. Kritik der reinen Vernunft. I. Ausg., S. 316. Ak.-Ausg. Bd. 4, S. 316.

Nicht im Hinblick auf die vollkommene Ordnung selbst, sondern im Hinblick auf die Menschen, welche sie erstreben, hat Kant immer den grundsätzlichen Unterschied von Interesse und Pflicht betont. In der als Ziel betrachteten Gesellschaft können die Zwecke eines jeden Individuums mit den Zwecken aller übrigen zusammen bestehen, in ihr wären zwar die Privatzwecke der Einzelnen dem Inhalt nach verschieden, aber es bestünde keine Notwendigkeit der gegenseitigen Behinderung. Das moralische Handeln fiele mit dem natürlichen Gesetz zusammen, führte jedenfalls nicht zum Konflikt mit ihm. Trotz klarer Sätze über die Möglichkeit dieser künftigen Gesellschaft mag Kant über das Mass ihrer Verwirklichung geschwankt haben; bei der Abfassung der Kritik der reinen Vernunft war es seine Überzeugung, dass die Durchführung des Ideals „jede angegebene Grenze übersteigen kann ¹)“. Er hat gegen die sogenannten staatsklugen Männer, die sich ihrer Praxis rühmen und in Wirklichkeit den herrschenden Gewalten nach dem Munde reden, harte Worte gefunden, weil sie davon sprächen, dass die menschliche Natur die Verbesserung im Sinne der Idee unmöglich mache. Ihnen werde „jede jetzt vorhandene gesetzliche Verfassung und, wenn diese höhern Orts abgeändert wird, die nun folgende immer die beste sein ²)”. Der Philosoph beruft sich nicht skeptisch darauf, die Menschen zu kennen, sondern er kennt den Menschen und weiss, „was aus ihm gemacht werden kann “ ³). Es gibt keinen stichhaltigen Einwand der Anthropologie gegen die Überwindung schlechter gesellschaftlicher Verhältnisse. Kants Argumente wider die psychologische Verteidigung des Absolutismus gelten für jede Epoche, in der unter anderen Wissenschaften auch die vom Menschen zum Kampf gegen den Fortschritt ausgenutzt werden. Was Schopenhauer die „Aufstellung eines moralischen Utopiens” ⁴) genannt hat, die Erfüllung der Moral und zugleich ihre Überwindung ist für Kant keine Illusion, sondern das Ziel der Politik.

Freilich weist auch die Philosophie Kants utopische Elemente auf: sie liegen nicht im Gedanken an eine vollkommene Verfassung, sondern in der undialektischen Vorstellung einer stetigen Annäherung an sie. Nach seiner Überzeugung finden sich alle Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft als identisch in jenem Endzustand wieder, nur fügen sie sich besser ineinander als in der Gegenwart. Auch Kant verewigt die Kategorie des herrschenden Systems.

¹) a. a. O., S. 317, Ak.-Ausg., S. 202.
²) Zum ewigen Frieden, a. a. O., S. 370.
³) a. a. O., S. 374.
⁴) Grundlage der Moral, a. a. O., S. 635.

Die von ihm als Ziel vorgestellte Ordnung wäre wiederum eine solche von selbständig handelnden Personen, aus deren individuell getroffenen Entschlüssen sich freilich die Wohlfahrt des Ganzen reibungslos ergäbe. Dieses Ideal ist in der Tat eine Utopie; wie in jeder Utopie formt der sehnsüchtige Gedanke aus den unveränderten Elementen der Gegenwart ein schönes Bild. Die Übereinstimmung der Interessen aller Einzelnen kann in Kants Utopie bloss als prästabilierte Harmonie, als wohltätiges Wunder verstanden werden. Im Unterschied dazu trägt die Wissenschaft dem Umstand Rechnung, dass die geschichtliche Umwälzung auch die Elemente des früheren Zustands mitverwandelt.

Um den utopischen Charakter der Kantischen Vorstellung von einer vollkommenen Verfassung aufzuheben, bedarf es der materialistischen Theorie der Gesellschaft. Die verschiedenen Interessen des Einzelnen sind ja keine letzten Tatsachen, sie haben ihren Grund nicht in einer unabhängigen psychologischen Konstitution, sondern in den materiellen Verhältnissen und in der realen Gesamtlage der gesellschaftlichen Gruppe, zu der das Individuum gehört. Die schlechterdings unausgleichbare Verschiedenheit der Interessen geht aus der Verschiedenheit der Eigentumsverhältnisse hervor; die Menschen stehen heute gegeneinander als Funktionen verschiedener ökonomischer Potenzen, deren jede den anderen widersprechende Entwicklungstendenzen zeigt. Erst wenn diese gegensätzliche Wirtschaftsweise, deren Einführung einmal einen ausserordentlichen Fortschritt, unter anderem die Entwicklungsmöglichkeit selbstbewusster Menschen bedeutet hat, von einer Lebensform der Gesellschaft abgelöst sein wird, in der das produktive Eigentum nicht bloss der guten Absicht nach, sondern mit vernünftiger Notwendigkeit im allgemeinen Interesse verwaltet wird, hört die Zusammenstimmung der Einzelzwecke auf, als Wunder zu erscheinen. Dann hören aber auch die Individuen auf, bloss Exponenten privater Zwecke zu sein. Jedes ist nicht mehr nur Monade, sondern in Kants Sprache ein „Glied" der Allgemeinheit.

Dieser Ausdruck, mit dem er ein dynamisches Element im moralischen Phänomen bezeichnet, das über es selbst hinaus auf eine vernünftigere Gesellschaft hinweist, hat in der modernen Soziologie eine traurige Funktion erhalten: er soll die Menschen, die in diesem aus den Fugen geratenen Mechanismus der gegenwärtigen Gesellschaft verzweifeln, dazu antreiben, sich dem partikularen „Ganzen“ blind zu überlassen, in dessen Bereich sie durch Geburt oder Schicksal geraten sind, gleichviel welche Rolle es gerade in der menschlichen Geschichte spielt. Die organologische Wendung wird dabei in einem Sinn verstanden, der Kant genau zuwiderläuft. Anstatt auf ein Zeitalter, in dem die menschlichen Verhältnisse wirklich durch Vernunft geregelt werden, deutet sie nach zurückliegenden Stufen der Gesellschaft hin, auf denen jeder Vorgang bloss durch Instinkt, Tradition, Gehorsam vermittelt war. Kant benutzt das Bild des Organismus, um das reibungslose Funktionieren der künftigen Gesellschaft anzuzeigen; dabei wird die Rolle des rationalen Denkens nicht im geringsten verneint. Heute dagegen bezeichnet das Bild des Organismus ein System der Abhängigkeit und der ökonomischen Ungleichheit, das sich vor dem gewachsenen kritischen Verstand der Menschen nicht mehr zu rechtfertigen vermag und daher metaphysischer Phrasen bedarf, um sie mit ihm auszusöhnen. Der Organismus wird herbeigezogen, um den durch das Wachstum aller Kräfte fragwürdig gewordenen Tatbestand, dass die einen bloss bestimmen und die anderen bloss ausführen, als ewiges Verhältnis aus der blinden Natur zu begründen: die leidenden Menschen sollen sich heute wie zur Zeit Menenius Agrippas mit dem Gedanken zufrieden geben, dass ihre Rolle im Ganzen ihnen angeboren sei wie den Gliedern die ihre im tierischen Körper. Die sture Abhängigkeit in der Natur wird den Gliedern der Gesellschaft als Beispiel vorgehalten. Entgegen dieser idealistischen Soziologie, die das Unrecht zu beseitigen vermeint, indem sie das steigende Bewusstsein davon durch sogenannte geistige Erneuerung aus den Köpfen zu entfernen trachtet, geht die Tendenz der Kantischen Morallehre auf eine Gesellschaft, in der zwar die sachlichen Verrichtungen aufs feinste gegliedert sind, aber die Entfaltungsmöglichkeiten und das Glück der Individuen keiner Stufenfolge unterworfen und dem Schicksal nicht preisgegeben werden. „Auf dass nicht eine Spaltung im Leibe sei, sondern die Glieder für einander gleich sorgen”, wie es auch im Neuen Testament heisst ¹). Bei Kant ist der Organismus gerade durch den Begriff des Zwecks bestimmt. Organisches Geschehen verweist nach ihm stets auf „die Kausalität eines Begriffs ²)", das heisst auf Absicht und Plan.

In der zukünftigen Gesellschaft, wie sie das moralische Bewusstsein intendiert, ergibt sich das Leben des Ganzen wie der Einzelnen nicht bloss als natürlicher Effekt, sondern als Wirkung von vernünftigen Entwürfen, die dem Glück der Individuen in gleicher Weise Rechnung tragen. An die Stelle des blinden Mechanismus der ökonomischen Kämpfe, welche gegenwärtig das Glück und für den grösseren Teil der Menschheit das Unglück bedingen, tritt die zweckmässige Anwendung des unermesslichen Reichtums an menschlichen und sachlichen Kräften der Produktion.

¹) I. Korinther, Kap. 12, Vers 25.
²) Vgl. Kritik der Urteilskraft, §§ 10 u. 64, Ak.-Ausg., Bd. 5, S. 219 f. u. S. 369 ff.

Jedes Individuum soll nach Kant „zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen ¹)“ sein. „Gesetzgebend” ist es nicht bloss in dem öffentlich-rechtlichen Sinn der formalen Demokratie, sondern so, dass es selbst mit seinen Möglichkeiten in der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit ebensoviel Rücksicht findet wie alle anderen. Im Sinne Kants gebührt keiner besonderen Ganzheit die Ehre, als absoluter Zweck zu gelten, sondern den Individuen: nur sie haben Vernunft. Die Idee dieser menschenwürdigen Gesellschaft, in der die Moral ihren Grund verliert, hat Kant durch die Analyse des moralischen Bewusstseins aufgewiesen, sie erscheint als seine Forderung und Konsequenz. Hegel hat sie zur Grundlage seiner Philosophie gemacht. Nach ihm besteht die Vernünftigkeit konkret in der Einheit von objektiver und subjektiver Freiheit, das heisst in der Einheit des allgemeinen Willens und der ihre Zwecke verfolgenden Individuen ²). Freilich hat er diesen Zustand — ähnlich wie seine liberalistischen Lehrer der Nationalökonomie — zu seiner Zeit schon für verwirklicht angesehen. Die Moral als eine vom Interesse unterschiedene menschliche Kraft spielt in seinem System keine grosse Rolle; ihrer wird nach dieser abschliessenden Geschichtsmetaphysik als vorwärtstreibender Kraft nicht mehr bedurft. Hegels Begriff des Geistes enthält jedoch das gleiche Ideal, das die bürgerliche Welt so wie in der Kantischen Philosophie in allen denkenden Köpfen angelegt hat. Die Theorie seiner Verwirklichung führt von der Philosophie zur Kritik der politischen Ökonomie.

Durch die Erkenntnis, dass Wille und Aufruf zu ihr in der gegenwärtigen Produktionsweise ihre Wurzeln haben und wie andere Lebensformen sich mit ihr verändern, wird die Moral zugleich begriffen und verendlicht. Sie bedeutet in einer Epoche, in welcher die Herrschaft der Eigentumsinstinkte das natürliche Gesetz des Menschen ist und jeder im anderen nach Kants Bestimmung zunächst ein Mittel für seine eigenen Zwecke sieht, die Sorge um die Entfaltung und das Glück des Lebens überhaupt. Auch die Gegner der traditionellen Moral setzen in ihrer Kritik ein unbestimmtes moralisches Gefühl mit solchen Strebungen voraus. Wenn Nietzsche in der Vorrede zur „Genealogie der Moral“ sein eigenes Problem klarlegt, so folgt auf die materialistische Frage: „unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturteile gut und böse?” sogleich die moralische: „und welchen Wert haben sie selbst? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen?

¹) Grundlegung, a. a. O., S. 433.
²) Vgl. u. a. Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258.

Sind sie ein Zeichen von Notstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verrät sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Mut, seine Zuversicht, seine Zukunft?“ Als Masstab gilt hier ebenso die allgemeine Vorstellung der Menschheit wie bei Kant. Freilich hat Nietzsche in einer Periode, in der die Bedingungen für eine gedeihlichere Form ihrer Organisation schon deutlich sichtbar waren, sehr verkehrte Mittel zu ihrer Befreiung empfohlen; seine Forderung an die gegenwärtige Menschheit, sie müsse „ihr Ziel über sich hinauslegen — aber nicht in eine falsche Welt, sondern in ihre eigene Fortsetzung” ¹), trifft ihn selbst, denn seine praktischen Vorschläge beruhen alle auf einer falschen Extrapolation. Aus seiner psychologischen Erforschung der Individuen, die unter dem natürlichen Gesetz ihres persönlichen Interesses handeln, hat er geschlossen, dass die allgemeine Erfüllung dessen, wonach sie streben, nämlich Sicherheit und Glück, eine Gesellschaft von Spiessbürgern, die Welt der „letzten“ Menschen erzeugen müsste. Er erkannte nicht, dass die ihm verhassten Eigenschaften in der Gegenwart gerade aus dem Mangel an günstigen Bedingungen für die Allgemeinheit hervorgehen. Mit der von ihm gefürchteten Ausbreitung der Vernunft, mit ihrer Anwendung auf die gesamten Verhältnisse der Gesellschaft müssen jene Eigenschaften, die in Wahrheit auf der Zentrierung aller Instinkte um den privaten Vorteil beruhen, umschlagen und die Vorstellungen, ja selbst die Triebe anders werden. Nietzsches Unkenntnis der Dialektik lässt ihn den gleichen „Mangel der Gerechtigkeit” wie Kant voraussehen. „Wäre sie so, wie wir wünschen, so würde alle Moralität sich in Eigennutz verwandeln ²)". Aber wirklich verwandelte sich zugleich der Eigennutz in Moralität, oder vielmehr beide gingen in einer neuen, dem vernünftigeren Zustand entsprechenden Form des menschlichen Interesses auf. Nietzsches Geschichtstheorie geht fehl; er legt das Ziel, wenn auch nicht in eine jenseitige, so doch in eine verkehrte Welt, weil er die Bewegung der gegenwärtigen aus Unkenntnis der ökonomischen Gesetze missversteht. Seine eigene Moral enthält jedoch dieselben Elemente wie die von ihm bekämpfte. Er wütet gegen sich selbst.

¹) Aus dem Nachlass. Werke, Taschenausg. Leipzig, Bd. 7, S. 488.
²) Kant, Reflexionen zur Metaphysik. Handschriftlicher Nachlass, Ak.-Ausg., Bd. 18, S. 454.

Auch nach Bergson enthält die Moral den Gedanken an den Fortschritt der Menschheit, „...de la societe reelle dont nous sommes nous nous transportons par la pensee à la societe ideale, vers eile monte notre hommage quand nous nous inclinons devant la dignite humaine en nous, quand nous declarons agir par respect de nous-même ¹)“. Die Moral hat nach ihm zwei Seiten: eine „natürliche”, die aus der Anpassung der Gesellschaft an ihre Lebensbedingungen hervorgeht — sie bestellt in den zu Gewohnheiten verfestigten, sozial zweckmässigen Reaktionen, welche den Mitgliedern von primitiven Stämmen und von zivilisierten Nationen ähnlich zu eigen sind wie den Exemplaren tierischer Verbände — und eine in Wahrheit menschliche Seite, den „elan d’amour“. Er enthält in sich „le sentiment d’un progres” ²) und geht nicht mehr bloss auf die Erhaltung und Sicherung des partikularen Verbands, zu dem das Individuum zufällig gehört, sondern auf die Menschheit. Der Unterschied beider Seiten, deren eine als „pression sociale“ und deren andere als „marche en avant” erscheint, ist kein anderer als der zwischen dem natürlichen Gesetz und der Achtung vor der Humanität bei Kant. Der Blick Bergsons reicht heute noch tief genug, um den Unterschied von öffentlich geachtetem Gefühl und nach vorwärts weisender Moral zu treffen. Die „tendances innees et fundamentales de l’homme actuel ³)“ gehen auf Familie, Interessenverband, Nation, sie schliessen die mögliche Feindschaft von Gruppe zu Gruppe notwendig ein. Zu dieser zweckvollen Liebe gehört der Hass, keineswegs zur Solidarität des nach vorwärts gerichteten moralischen Gefühls. „C’est qu’entre la nation, si grande soit-elle, et l’humanite, il y a toute la distance du fini à l’indefini, du clos à l’ouvert ⁴)”. Ebenso wie Nietzsche verliert freilich Bergson bei der Frage, wie die von der echten Moral vorgezeichnete ideale Gesellschaft zu verwirklichen sei, welche gegenwärtigen Mächte ihr entgegenarbeiten und wer sie verkündet und sich für sie einsetzt, die Schärfe seines Blicks. Er wiederholt hier die Theorie der Heroen, „dont chacun represente, comme eüt fait l’apparition d’une nouvelle espece, un effort d’evolution creatrice ⁵)“. Nach altem Aberglauben sollen sie nur einzeln und zu Beginn langer Zeiträume aufstehen, sie seien äusserst selten. In der Gewissheit ihrer Seltenheit vergisst Bergson allerdings zu fragen, ob heute dieser Helden der „societe ideale” nicht am Ende viele existierten und im Kampfe stünden, ohne dass die Philosophen von ihnen eine andere Kenntnis nähmen als jene, die der „geschlossenen Seele" eigentümlich ist. In diesem Vergessen, in der Gleichgültigkeit gegenüber den irdischen Kämpfen um jene Gesellschaft, die in der Moral gedanklich vorweggenommen wird, in der mangelnden Verbindung mit den nach vorwärts treibenden Kräften liegt das Stück Unmoral, wie es gegenwärtig auch in der echten Philosophie zu entdecken ist.

¹) Les deux sources de la raorale et de la religion. Paris, 1932, S. 66.
²) a. a. O., S. 48.
³) a. a. O., S. 54.
⁴) a. a. O.
⁵) a. a. O., S. 98.

Der Materialismus sieht in der Moral eine Lebensäusserung bestimmter Menschen und versucht sie aus den Bedingungen ihres Entstehens und Vergehens zu begreifen, nicht um der Wahrheit an sich willen, sondern im Zusammenhang mit bestimmten geschichtlichen Antrieben. Er versteht sich selbst als die theoretische Seite der Anstrengungen zur Abschaffung des vorhandenen Elends. Die Züge, die er an dem historischen Phänomen der Moral bezeichnet, treten für die Betrachtung nur unter der Voraussetzung eines bestimmten praktischen Interesses hervor. Der Materialismus vermutet hinter der Moral keine überhistorische Instanz. Die Angst, welche moralische Vorschriften — seien sie auch noch so sehr spiritualisiert — von ihrer Abkunft aus religiöser Autorität her noch mit sich führen, ist ihm fremd. Die Folgen aller menschlichen Handlungen verlaufen ausschliesslich in der raum-zeitlichen Welt. Soweit sie in dieser nicht auf ihren Urheber zurückwirken, hat er nichts von ihnen zu fürchten. Selbst der Glanz, mit dem die Philosophen wie die öffentliche Meinung überhaupt das „ethische“ Handeln umkleiden, alle Argumente, durch die sie es empfehlen, halten vor der Vernunft nicht stand. Die moderne „Wertforschung” von Scheler und Hartmann hat mit der Meinung, man könne das „Feld der eigentlichen Werte“ ¹) ähnlich wie ein anderes Sachgebiet erforschen, nur eine andere Methode zur Lösung einer unmöglichen Aufgabe eingeschlagen: der Begründung von Handlungsweisen aus blosser Philosophie. Die Behauptung einer Wissenschaft von „Struktur und Ordnung des Wertreiches” stellt notwendig den Versuch einer solchen Verkündigung von Geboten dar. Denn auch wenn dieses Wissen als „noch ganz im Stadium des Suchens und Tastens steckendes“ ²) bezeichnet wird, so haftet doch an allen Werten, die der Ethiker aufzuweisen strebt, ein „Sollensmoment” ³), das sich in bestimmten Fällen „in das Tunsollen des Subjekts" ⁴) umsetzt. Trotz der Erklärung, dass die Entscheidung stets im Gewissen des Subjektes liege, trotz der Allgemeinheit, die ja zum Wesen der philosophischen Morallehre hinzugehört, wird behauptet, dass Rangunterschiede bestünden, denen das Verhalten gemäss sein soll: „so ist z. B. Nächstenliebe im Wertcharakter höher als Gerechtigkeit, Fernstenliebe höher als Nächstenliebe, persönliche Liebe aber (wie es scheint) höher als beide. Ebenso steht Tapferkeit höher als Beherrschung,

¹) Hartmann, Ethik a. a. O., S. 43.
²) a. a. O., S. 227.
³) a. a. O., S. 154
⁴) a. a. O., S. 163.

Glaube und Treue höher als Tapferkeit, schenkende Tugend und Persönlichkeit wiederum höher als diese ¹). Solche Behauptungen, deren Inhalt übrigens infolge der seit Kant stark rückschrittlich gewordenen Funktion der Philosophie nur sehr weitläufig mit dem moralischen Gefühl zusammenhängt, haben Gebotscharakter wie der kategorische Imperativ. Sie sind der mystifizierte Ausdruck von seelischen Tatbeständen, in denen freilich „pression sociale“ und „elan d’amour” eine schwer zu analysierende Verbindung eingegangen sind. Es gibt kein ewiges Wertreich. Bedürfnisse und Wünsche, Interessen und Leidenschaften der Menschen ändern sich im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Prozess. Psychologie und andere Hilfswissenschaften der Geschichte haben sich zur Erklärung der jeweils anerkannten Werte und ihres Wandels zu vereinigen.

Verbindliche moralische Gebote bestehen nicht. Der Materialismus findet keine die Menschen transzendierende Instanz, die zwischen Hilfsbereitschaft und Profitgier, Güte und Grausamkeit, Habgier und Selbsthingabe unterschiede. Auch die Logik bleibt stumm, sie erkennt der moralischen Gesinnung keinen Vorrang zu. Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen — selbst Kant hat, wie die erörterten Beispiele beweisen, dieser Neigung nicht immer widerstanden — beruhen auf harmonistischen Illusionen. Vorerst fallen sie und die Klugheit in den meisten Fällen auseinander. Sie ist keiner Begründung fähig — weder durch Intuition noch durch Argumente. Vielmehr stellt sie eine psychische Verfassung dar. Diese zu beschreiben, in ihren persönlichen Bedingungen und Mechanismen der Fortpflanzung von einer Generation zur anderen verständlich zu machen, ist Sache der Psychologie. Kennzeichnend für das moralische Gefühl ist ein Interesse, das vom „natürlichen Gesetz“ abweicht und nichts mit privater Aneignung und mit Besitz zu tun hat. In der Gegenwart werden fast alle menschlichen Regungen, sei es durch dieses Gesetz, sei es durch blosse Konvention bestimmt. Aus den Definitionen der bürgerlichen Denker geht hervor, dass selbst die Liebe in dieser Periode unter der Kategorie des Eigentums steht. „Videmus... quod ille, qui amat necessario conatur rem, quam amat, praesentem habere et conservare”, sagt Spinoza ²). Als „Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften" beschreibt Kant die Ehe ³)

¹) a. a. O., S. 497.
²) Ethica, Pars III, Propos. XIII, Schol.
³) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 24, Ak.-Ausg., Bd. 6, S. 277.

und spricht von der „Gleichheit des Besitzes“ der Gatten nicht bloss an dinglichen Gütern, sondern auch „der Personen, die einander wechselseitig besitzen” ¹). Auch soweit die modernen Darstellungen nicht ganz ideologisch geworden sind, enthalten sie ähnliche Definitionen. Nach Freud besteht das Sexualziel des infantilen Triebs, in dem nach seiner Lehre auch die wesentlichen Züge des Triebs der Erwachsenen schon zu entdecken sind, darin „die Befriedigung durch die geeignete Reizung der... erogenen Zonen hervorzurufen" ²). Die geliebte Person erscheint danach hauptsächlich als das Mittel, jene Reizung auszuüben. Freuds Theorie mutet in dieser Hinsicht wie eine nähere Ausführung zu Kants Definition der Ehe an.

Von dieser Art der Liebe ist das moralische Gefühl verschieden und Kant hat recht, wenn er es nicht bloss vom Egoismus, sondern auch von jeder solchen „Neigung“ unterscheidet. Durch seine Lehre, dass im Gegensatz zu dem, was in der bürgerlichen Welt die Regel ist, der Mensch in der Moral nicht bloss ein Mittel, sondern stets zugleich der Zweck sei, bezeichnet er den psychischen Tatbestand. Das moralische Gefühl hat etwas mit Liebe zu tun, denn „im Zweck liegt die Liebe, die Verehrung, das Vollkommensehn, die Sehnsucht ³)”. Aber diese Liebe betrifft nicht die Person als ökonomisches Subjekt oder als einen Posten im Vermögensstand des Liebenden, sondern als das mögliche Mitglied einer glücklichen Menschheit. Sie geht nicht auf Funktion und Ansehen eines bestimmten Individuums im bürgerlichen Leben, sondern auf seine Bedürftigkeit und Kräfte, welche in die Zukunft weisen. Ohne dass die Richtung auf ein künftiges glückliches Leben aller Menschen, die sich freilich nicht auf Grund einer Offenbarung, sondern aus der Not der Gegenwart ergibt, in die Beschreibung dieser Liebe aufgenommen wird, lässt sie sich keinesfalls bestimmen. Allen, sofern sie überhaupt Menschen sind, wünscht sie die freie Entfaltung ihrer fruchtbaren Kräfte. Es scheint ihr, als hätten die lebenden Wesen einen Anspruch auf Glück, und sie fragt nicht im geringsten nach einer Rechtfertigung oder Begründung dafür. Strenge steht zu ihr ursprünglich im Widerspruch, auch wenn es psychische Prozesse geben mag, die beide Momente an sich tragen. In der bürgerlichen Gesellschaft stand Erziehung zur strengen Moral öfter im Dienste des natürlichen Gesetzes als unter dem Zeichen der Befreiung von ihm. Nicht der Stock des Korporals, sondern der Schluss der Neunten Symphonie ist ein Ausdruck des moralischen Gefühls.

¹) a. a. O., § 26, S. 278.
²) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Schriften, Bd. 5, S. 59.
³) Nietzsche, Nachlass, a. a. O.

Dieses betätigt sich heute in doppelter Gestalt. Zuerst als Mitleid. Während in der Periode Kants die durch private Aneignung vermittelte gesellschaftliche Produktion fortschrittlich war, bedeutet sie heute sinnlose Lahmlegung der Kräfte und ihren Missbrauch zu Zwecken der Zerstörung. Der im Weltmasstab sich austragende Kampf der grossen ökonomischen Machtgruppen wird unter Verkümmerung guter menschlicher Anlagen, unter Aufbietung von Lüge im Inneren und Äussern und unter Entwicklung eines unermesslichen Hasses geführt. Die Menschheit ist in der bürgerlichen Periode so reich geworden, gebietet über so grosse natürliche und menschliche Hilfskräfte, dass sie geeinigt unter würdigen Zielsetzungen existieren könnte. Die Notwendigkeit, diesen allenthalben durchscheinenden Tatbestand zu verhüllen, bedingt eine Sphäre der Heuchelei, die sich nicht bloss auf die internationalen Beziehungen erstreckt, sondern auch in die privatesten eindringt, eine Minderung kultureller Bestrebungen einschliesslich der Wissenschaft, eine Verrohung des persönlichen und des öffentlichen Lebens, so dass sich zum materiellen noch das geistige Elend gesellt. Nie stand die Armut der Menschen in schreienderem Gegensatz zu ihrem möglichen Reichtum als gegenwärtig, nie waren alle Kräfte grausamer gefesselt als in diesen Generationen, wo die Kinder hungern und die Hände der Väter Bomben drehen. Die Welt scheint einem Unheil zuzutreiben oder sich vielmehr schon in ihm zu befinden, das innerhalb der uns vertrauten Geschichte nur mit dem Untergang der Antike verglichen werden kann. Die Sinnlosigkeit des Einzelschicksals, die durch den Mangel an Vernunft, durch die blosse Natürlichkeit des Produktionsprozesses schon früher bedingt war, hat sich in dieser gegenwärtigen Phase zum eindringlichsten Kennmal des Daseins gesteigert. Wer Glück hat, könnte seinem inneren Wert nach auch am Platz des Unglücklichsten stehen und umgekehrt. Jeder ist dem blinden Zufall preisgegeben. Der Ablauf seines Daseins steht in keinem Verhältnis zu seinen inneren Möglichkeiten, seine Rolle in der gegenwärtigen Gesellschaft hat meist keine Beziehung zu dem, was er in einer vernünftigen leisten könnte. Das Verhalten des moralisch Handelnden zu ihm vermag sich daher nicht nach seiner Würdigkeit zu richten; wie weit Gesinnungen und Taten wirklich verdienstvoll sind, stellt sich in der chaotischen Gegenwart nicht heraus, „die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns..., selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. (’) Wir sehen die Menschen nicht als Subjekte ihres Schicksals, sondern als Objekte eines blinden Naturgeschehens, und die Antwort des moralischen Gefühls darauf ist Mitleid.

’) Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. 579, Ak.-Augs., Bd. 3, S. 373.

Dass Kant das Mitleid auf dem Grund des moralischen Gefühls nicht sah, ist aus der geschichtlichen Lage zu erklären. Er durfte vom ungebrochenen Fortschritt des freien Wettbewerbs die Steigerung des allgemeinen Glücks erwarten, denn er erblickte die Welt unter der Herrschaft dieses Prinzips im Aufstieg. Trotzdem war auch zu seiner Zeit das Mitleid nicht von der Moral zu trennen. Soweit Individuum und Ganzes nicht wirklich eins geworden sind soweit nicht der leichte Tod des von der Angst befreiten Einzelnen ihm selbst als Äusserliches gilt, weil er seine wesentlichen Zwecke mit Recht bei der Allgemeinheit aufgehoben weiss, solange also die Moral noch einen Existenzgrund hat, wohnt ihr das Mitleid ein. Ja, es mag sie überdauern; denn die Moral gehört zu der bestimmten Form der menschlichen Beziehungen, welche diese auf Grund der Wirtschaftsweise des bürgerlichen Zeitalters angenommen haben. Mit der Veränderung dieser Beziehungen durch ihre vernünftige Regelung tritt sie zum mindesten in den Hintergrund. Die Menschen mögen dann gemeinsam ihre eigenen Schmerzen und Krankheiten bekämpfen — es ist nicht abzusehen was die von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Fesseln befreite Medizin zustande bringen wird — , in der Natur aber herrscht weiter das Leiden und der Tod. Die Solidarität der Menschen ist jedoch ein Teil der Solidarität des Lebens überhaupt. Der Fortschritt in der Verwirklichung jener wird auch den Sinn für diese stärken. Die Tiere bedürfen des Menschen. Es ist die Ehre der Schopenhauerschen Philosophie, dass sie die Einheit von uns und ihnen ganz ins Licht gerückt hat. Die grösseren Gaben des Menschen, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar.

Die andere Gestalt, in welcher heute die Moral einen angemessenen Ausdruck findet, ist die Politik. Ihr richtiges Ziel ist von den grossen Moralphilosophen als Glück der Allgemeinheit immer wieder bezeichnet worden. Über die Struktur der künftigen Gesellschaft hat sich Kant selbst freilich täuschen müssen, weil er die Form der gegenwärtigen für ewig hielt. Erst die materialistische Kritik der politischen Ökonomie hat ergeben, dass die Verwirklichung des Ideals, mit dem die gegenwärtige Gesellschaft ins Leben getreten ist, nämlich eben die Vereinigung von besonderem und allgemeinem Interesse, nur unter Aufhebung ihrer eigenen Bedingungen erfolgen kann. Heute wird behauptet, die bürgerlichen Ideen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit hätten sich als schlecht erwiesen; aber nicht die Ideen des Bürgertums, sondern Zustände, die ihnen nicht entsprechen, haben ihre Unhaltbarkeit gezeigt. Die Losungen der Aufklärung und der französischen Revolution haben mehr als je ihre Gültigkeit. Gerade in dem Nachweis, dass sie ihre Aktualität bewahrt und nicht auf Grund der Wirklichkeit verloren haben, besteht die dialektische Kritik an der Welt, die sich unter ihrem Mantel birgt. Diese Ideen und Werte sind nichts anderes als die einzelnen Züge der vernünftigen Gesellschaft, wie sie in der Moral als notwendiger Zielrichtung vorweggenommen ist. Eine ihr entsprechende Politik hat darum diese Forderungen nicht zu verlassen, sondern zu verwirklichen — freilich nicht, indem sie zeitbedingte Definitionen utopistisch festhält, sondern in Übereinstimmung mit ihrem Sinn. Der Inhalt der Ideen ist nicht ewig, sondern dem geschichtlichen Wandel unterworfen, nicht etwa weil der „Geist" aus sich selbst heraus willkürlich das Identitätsprinzip verletzte, sondern weil die menschlichen Impulse, die nach Besserem verlangen, je nach dem geschichtlichen Material, an dem sie sich betätigen, eine andere Gestalt annehmen. Die Einheit solcher Begriffe ergibt sich weniger aus der Konstanz ihrer Elemente als aus der geschichtlichen Entwicklung der Lage derer, für die ihre Verwirklichung notwendig ist.

In der materialistischen Theorie kommt es nicht darauf an, Begriffe unverändert durchzuhalten, sondern das Los der Allgemeinheit zu verbessern. In dem Kampf darum haben die Ideen ihren Inhalt verändert. Die Freiheit der Individuen bedeutet heute die Aufhebung ihrer ökonomischen Selbständigkeit in einem Plan. Die Voraussetzung der bisherigen Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit war die gegenwärtige Ungleichheit der ökonomischen und menschlichen Subjekte; sie muss in der geeinten Gesellschaft verschwinden: damit verlieren diese Ideen ihren Sinn. „Gleichheit besteht bloss im Gegensatz zu Ungleichheit, Gerechtigkeit zu Unrecht, sind also noch mit dem Gegensatz zur alten bisherigen Geschichte belastet, also mit der alten Gesellschaft selbst" ¹). Alle diese Begriffe empfingen bisher ihren bestimmten Inhalt aus den Verhältnissen der freien Wirtschaft, die mit der Zeit für alle günstig funktionieren sollte. Heute haben sie sich zur konkreten Vorstellung einer besseren Gesellschaft verwandelt, die aus der gegenwärtigen geboren wird, wenn die Menschen nicht vorher in Barbarei versinken.

¹) Engels, Vorarbeiten zum „Anti-Dühring", Marx-Engels-Archiv, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1927, S. 408.

Der Begriff der Gerechtigkeit, der als Losung im Kampf um die vernünftige Einrichtung der Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielt, ist älter als die Moral. Er ist so alt wie die Klassengesellschaft, das heisst wie die bekannte europäische Geschichte selbst. Als allgemeiner, im Diesseits zu verwirklichender Grundsatz hat die Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Freiheit und Gleichheit erst in der bürgerlichen Moral Anerkennung gefunden; erst heute freilich sind die Hilfsmittel der Menschheit gross genug geworden, dass ihre angemessene Verwirklichung als unmittelbare geschichtliche Aufgabe gestellt ist. Das Ringen um ihre Erfüllung kennzeichnet unsere Epoche des Übergangs.

In der bisherigen Geschichte war jede Kulturarbeit nur auf Grund einer Spaltung in herrschende und beherrschte Gruppen möglich. Das Leid, das mit der stetigen Erneuerung des Lebens der Völker auf einer bestimmten Stufe, besonders aber mit jedem Fortschritt verbunden ist und gleichsam die Kosten darstellt, welche die Gesellschaft aufwendet, hat sich niemals gleichmässig auf ihre Mitglieder verteilt. Der Grund liegt nicht, wie die edelmütigen Philosophen des 18. Jahrhunderts dachten, in der Habgier und Bosheit der Herrschenden, sondern in dem Missverhältnis zwischen den Kräften und Bedürfnissen der Menschen. Der allgemeine Bildungsgrad der Gesamtgesellschaft einschliesslich der Oberklasse bedingte in Anbetracht der vorhandenen Werkzeuge bis in die Gegenwart hinein die Abhängigkeit der Massen bei der Arbeit und damit im Leben überhaupt. Ihre Rohheit entsprach der Unfähigkeit der Herrschenden, sie auf einen höheren Grad der Bildung zu heben, und beide Momente wurden mit der Härte der gesellschaftlichen Existenz, welche sich nur langsam veränderte, stets wieder erzeugt. Die geschichtliche Menschheit hatte bei Gefahr des Versinkens in das Chaos keine Wahl, das Herrschaftsverhältnis aufzugeben. Entstehen und Verbreitung der Kulturwerte ist von dieser Spaltung nicht zu trennen. Abgesehen von den materiellen Gütern, die aus dem arbeitsteiligen Produktionsprozess hervorgehen, verweisen die Erzeugnisse von Kunst und Wissenschaft, die verfeinerten Formen des Umgangs zwischen den Menschen, ihr Sinn für eine geistige Existenz auf den Ursprung aus einer Lasten und Genüsse ungleich verteilenden Gesellschaft.

Man hat oft versichert, die Klassenspaltung, die der bisherigen Geschichte ihr Gepräge verleiht, sei eine Fortsetzung der Ungleichheit in der Natur. Die Tiergattungen lassen sich in Verfolger und Verfolgte einteilen, so dass zwar manche zugleich beides, andere aber vornehmlich nur eines von beiden sind. Auch innerhalb der Gattungen gibt es räumlich getrennte Gruppen, die teils vom Glück gesegnet, teils von einer Reihe unbegreiflicher Schicksalsschläge verfolgt erscheinen. Schmerzen und Sterben der Individuen innerhalb der Gruppen und Gattungen sind wiederum ungleich verteilt und hängen von Umständen ab, die jedes sinnvollen Zusammenhangs mit dem Leben der Betroffenen entbehren. Die durch den Lebensprozess der Gesellschaft fortwährend bedingte Ungleichheit ist derjenigen in der gesamten Natur verwandt. Im Leben der Menschheit durchdringen sich beide, indem die natürliche Verschiedenheit der äusseren Gestalt, der Begabung, ferner die Krankheiten und die näheren Umstände des Todes die gesellschaftliche Ungleichheit noch komplizieren. Freilich hängt auch der Grad, in dem diese natürlichen Unterschiede in der Gesellschaft wirksam sind, von der geschichtlichen Entwicklung ab; sie haben in den verschiedenen Etagen des jeweiligen Gesellschaftsbaus verschiedene Folgen: Das Auftreten derselben Krankheit kann für Angehörige sozial verschiedener Kreise ganz Verschiedenes bedeuten. Dem schlecht begabten reichen Kind geben Rücksicht, pädagogische Kunst und eine Reihe von Befriedigungen Gelegenheit zur Entfaltung der Anlagen, die noch vorhanden sind, während das zurückgebliebene Kind kleiner Leute im Daseinskampf geistig und körperlich zugrunde geht; seine Fehler werden durch das Leben gesteigert, die guten Ansätze zugrunde gerichtet.

In dieser Geschichte der Menschheit, in der die Ungleichheit einen so grundlegenden Zug darstellt, hat sich aber, sei es als ihre andere Seite, sei es als ihre Wirkung, immer wieder eine bestimmte menschliche Reaktion bemerkbar gemacht. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ist die Abschaffung der Ungleichheit gefordert worden. Nicht bloss die beherrschten Schichten, sondern auch Überläufer aus den herrschenden haben sie für schlecht erklärt. Die herzustellende Gleichheit, deren Begriff sich nach materialistischer Ansicht mit dem Tausch Verhältnis entwickelt hat, ist auf die verschiedenste Weise verstanden worden; von dem einfachen Anspruch, dass jeder an den von der Gesellschaft hervorgebrachten Konsumgütern gleichen Anteil erhalte (z. B. im Urchristentum), über den Vorschlag, dass jedem sein Mass entsprechend seiner Arbeit zugemessen werde (z. B. Proudhon), bis zum Gedanken, dem sensibelsten Individuum sollten am wenigsten Lasten zugemutet werden (Nietzsche), gibt es eine äusserst reichhaltige Reihe von Vorstellungen über den richtigen Zustand. Alle zielen daraufhin, dass das Glück, soweit es jedem Menschen im Verhältnis zu den anderen auf Grund seines Schicksals in der Gesellschaft möglich ist, nicht durch zufällige, willkürliche, ihm selbst äusserliche Faktoren bestimmt werde, mit andern Worten: dass die Ungleichheit in den Lebensbedingungen der Individuen wenigstens nur so gross sei, wie es bei Aufrechterhaltung der gesamtgesellschaftlichen Versorgung mit Gütern auf der gegebenen Stufe unvermeidlich ist. Das ist der allgemeine Inhalt des Gerechtigkeitsbegriffs; nach ihm bedarf die jeweils herrschende soziale Ungleichheit rationaler Begründung. Sie hört auf, als Gut zu gelten, und wird etwas, das überwunden werden soll.

Dieses Prinzip zum allgemeinen gemacht zu haben, ist eine Leistung der neueren Zeit. Es hat auch in ihr nicht an Verteidigern der Ungleichheit, an Lobrednern der Blindheit in Natur und Gesellschaft gefehlt. Aber wenn repräsentative Philosophen der vergangenen Epochen wie Aristoteles und Thomas von Aquin die Unterschiede im Schicksal der Menschen als ewigen Wert verherrlicht hatten, so stellte die Aufklärung, freilich im Anschluss an alte humanistische Lehren, die Ungleichheit als ein abzuschaffendes Übel dar, und in der französischen Revolution wurde die Gleichheit zu einem Prinzip der Verfassung erhoben. Diese Anerkennung war nicht blosse Eingebung oder, um mit Bergson zu reden, der Einbruch der offenen Moral in den Kreis der geschlossenen, sondern sie gehörte in jener Epoche zur Anpassung der Gesamtgesellschaft an die sich verändernden Lebensbedingungen welche diese kraft der ihr einwohnenden Dynamik wie jedes Lebewesen sowohl kontinuierlich als auch sprunghaft vollzieht. Die Idee der Gleichheit „resulte logiquement des transformations reelles de nos societes" ¹). Mit der Idee der Gleichheit ist die der Freiheit notwendig gesetzt. Wenn kein Individuum ursprünglich unwürdiger ist als ein anderes, sich in der Wirklichkeit zu entfalten und zu befriedigen, so ist damit auch die Anwendung des Zwanges von einer Menschengruppe gegen die andere als Übel erklärt. Der Begriff der Gerechtigkeit ist ebenso wenig von dem der Freiheit wie von dem der Gleichheit zu trennen.

Die Verkündigung der Gleichheit als Prinzip der Verfassung bildete von Anfang an für das Denken nicht bloss einen Fortschritt, sondern auch eine Gefahr. Indem sich in der neuen Gestaltung der Rechtsverhältnisse tatsächlich eine Aufhebung bestimmter bei den gewachsenen Kräften der Menschen nicht mehr notwendiger, ja hinderlicher Ungleichheiten vollzog, wurde dieser Schritt dabei auch als Verwirklichung der Gleichheit überhaupt proklamiert. Es war unklar geworden, ob die gesellschaftliche Gleichheit der Menschen noch eine zu erfüllende Forderung oder schon eine Beschreibung der Wirklichkeit sei. Die französische Revolution hat dem allgemeinen Gerechtigkeitsbegriff nicht bloss zur theoretischen Anerkennung verholfen, sondern ihn auch zu ihrer Zeit weitgehend verwirklicht. Er beherrscht die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts und ist als massgebender Zug in das gesamte Denken, ja sogar schon in das Gefühl der europäischen und amerikanischen Welt übergegangen.

¹) Célestin Bouglé, Les idées égalitaires. Étude sociologique. (1925), S. 248.

Die Institutionen aber, die zur Zeit jener Revolution das Prinzip angemessen verkörperten, die Gesamtverfassung der bürgerlichen Gesellschaft ist alt geworden. Die Gleichheit vor dem Gesetz hatte damals trotz Ungleichheit der Vermögen einen Fortschritt im Sinne der Gerechtigkeit bedeutet — sie ist heute wegen dieser Ungleichheit unzulänglich geworden. Die Freiheit der öffentlichen Rede war eine Waffe im Kampf für bessere Zustände — heute kommt sie vor allem den veralteten zugute. Die Unverletzlichkeit des Eigentums war ein Schutz der bürgerlichen Arbeit gegen den Zugriff der Behörden — heute hat sie Monopolisierung, Enteignung weiter bürgerlicher Schichten und Brachlegung des gesellschaftlichen Reichtums zur Folge.

Die Verbindung, welche die Ideen des Bürgertums seit dem Sieg der französischen Revolution mit der herrschenden Macht eingegangen sind, verwirrt daher die Gedanken: diese vorwärtstreibenden Ideen werden ihren sinngemässen Trägern, den fortschrittlichen Kräften der Gesellschaft entfremdet und entgegengesetzt. Gerade in der Gegenwart ist aber der Menschheit bei Gefahr des Untergangs die Verwirklichung aufgegeben. Heute bedeutet zum ersten Mal die Abschaffung der ökonomischen Ungleichheit, die in kurzer Zeit zu einer weitgehenden Aufhebung des Unterschieds von herrschenden und beherrschten Gruppen führen müsste, nicht nur keine Preisgabe von Kulturwerten, sondern im Gegenteil ihre Rettung. Während die ungleiche Machtverteilung in den früheren Epochen zu den Voraussetzungen der Kultur gehörte, ist sie heute zu ihrer Bedrohung geworden. Doch diejenigen Kräfte, welchen die schlechten gesellschaftlichen Verhältnisse zugute kommen, bedienen sich nun jener Ideen, um die mögliche Veränderung, die der Menschheit not tut, abzuwehren. Sie entreissen sie denen, die an ihrer Verwirklichung ein wahrhaftes Interesse haben. Daraus ergibt sich die besondere gegenwärtige Ratlosigkeit auf weltanschaulichem Gebiet. Die Bestimmungen der Gerechtigkeit, die heute in den Institutionen einer lediglich formalen Demokratie und in den Vorstellungen der in ihrem Geist erzogenen Menschen zum Ausdruck kommen, haben den klaren Zusammenhang mit ihrem Ursprung verloren — sonst richteten sie sich jetzt genau so gegen herrschende Mächte, welche die Entwicklung der Menschheit fesseln, wie zu der Zeit, als sie das Bürgertum selbst in produktivem Sinn verstand — nur dass die Veränderung heute einen ungleich entscheidenderen Schritt bedeutete. Doch obgleich die Mächtigen selbst jahrhundertelang die Prinzipien einer guten Ordnung als heilig verkündet haben, sind sie sogleich bereit, sie umzubiegen oder zu verraten, wo ihre sinnvolle Anwendung ihrem Interesse nicht mehr dient, sondern zuwiderläuft. Ja, sie sind bereit, die ganzen Ideale, als deren Träger die Väter der bürgerlichen Revolution gekämpft und gearbeitet haben, über Bord zu werfen und aus der Erziehung zu entfernen, wenn die Menschen entwickelt und verzweifelt genug sind, um sie nicht mehr mechanisch auf die Konservierung von Einrichtungen, sondern dialektisch zur Verwirklichung einer besseren Ordnung zu gebrauchen. Bedürfnisse der Macht nach aussen und innen bringen es mit sich, dass alles, was in der bürgerlichen Moral nach vorwärts weist, an vielen Orten erstickt oder absichtlich beseitigt wird. Die Zahl der Länder, in denen noch nicht alle Werte, die auf Steigerung des Glücks der Individuen gehen, verpönt sind, verringert sich immer mehr; es zeigt sich, dass der Zeitraum, in dem die bürgerliche Welt Moral erzeugte, zu kurz gewesen ist, um der Allgemeinheit in Fleisch und Blut überzugehen. Nicht nur die weltliche Moral allein, sondern sogar was vom Christentum, der ihr vorausgehenden zivilisatorischen Macht, an Güte und Menschenliebe im Lauf der Generationen in die Seele eingedrungen war, sitzt so wenig tief, dass in einigen Jahrzehnten auch diese Kräfte verkümmern können. Das moralische Gefühl bei Regierungen, Völkern und vielen Wortführern der gebildeten Welt ist so schwach, dass es sich zwar bei Erdbeben und Grubenkatastrophen in Sammlungen ausdrückt, jedoch angesichts schreienden Unrechts, das um reiner Eigentumsinteressen willen, also in Durchführung des „natürlichen Gesetzes" und unter Verhöhnung aller bürgerlichen Werte sich vollzieht, sehr leicht verstummt und vergisst.

Der Aufruf zur Moral ist machtloser denn je, aber es bedarf seiner auch nicht. Im Unterschied zum idealistischen Glauben an den Ruf des Gewissens als entscheidende Kraft in der Geschichte ist diese Hoffnung dem materialistischen Denken fremd. Weil es jedoch selbst zu den Bemühungen um eine bessere Gesellschaft hinzugehört, weiss es auch sehr wohl, wo die nach vorwärts treibenden Elemente der Moral heute wirksam sind. Sie werden unter dem ungeheueren Druck, der auf einem grossen Teil der gegenwärtigen Gesellschaft lastet, immer wieder als Wille zu vernünftigen, dem heutigen Entwicklungszustand angemessenen Verhältnissen erzeugt. Dieser Teil der Menschheit, der durch seine Lage notwendig auf diese Veränderung hingewiesen ist, enthält bereits Kräfte und zieht immer neue an, denen es im Ernst auf die Verwirklichung der besseren Gesellschaft ankommt. Er ist auch psychologisch dazu vorbereitet, denn seine Rolle im Produktionsprozess verweist ihn weniger auf die doch aussichtslose Vermehrung von Eigentum als auf den Einsatz seiner Arbeitskraft. Die Erzeugung von Charakteren, in denen die Eigentumsinstinkte nicht ausschlaggebend sind, wird unter diesen Bedingungen erleichtert.

Wenn so das Erbe der Moral an neue Schichten übergeht, so weisen doch viele Proletarier selbst die bürgerlichen Züge unter der Herrschaft des natürlichen Gesetzes auf, wie er in dieser Zeitschrift früher gezeichnet worden ist ¹); auch bilden noch die Werke später bürgerlicher Schriftsteller wie die von Zola, Maupassant, Ibsen, Tolstoi echte Zeugnisse moralischer Güte. Jedenfalls enthalten aber die gemeinsamen von Erkenntnis geleiteten Anstrengungen jenes Teils der Menschheit zu seiner und ihrer Befreiung soviel echte Solidarität, soviel Unbekümmertheit um die private Existenz, so wenig Gedanken an Besitz und Eigentum, dass sich in ihnen schon das Lebensgefühl der künftigen Menschheit anzuzeigen scheint. Während das vermeintliche Gleichheitsbewusstsein in der bestehenden Gesellschaft im allgemeinen den Makel an sich hat, über die tatsächliche Ungleichheit in der Existenz der Menschen hinwegzusehen, und dadurch die Unwahrheit einschliesst, stellen die auf Veränderung drängenden Kräfte die tatsächliche Ungleichheit in den Vordergrund. Zum gültigen Begriff der Gleichheit gehört das Wissen um seine Negativität: die heutigen Menschen sind nicht bloss den ökonomischen Vermögen, sondern auch ihren geistigen und moralischen Qualitäten nach verschieden. Ein bayrischer Bauer unterscheidet sich gründlich von einem Berliner Fabrikarbeiter. Aber die Gewissheit, dass die Unterschiede auf vergänglichen Bedingungen beruhen und dass vor allem die Ungleichheit an Macht und Glück, wie sie heute durch die Struktur der Gesellschaft sich befestigt hat, den gewachsenen Produktivkräften nicht mehr entspricht, erzeugen eine Achtung vor den inneren Möglichkeiten des Menschen und dem, „was aus ihm gemacht werden kann" (Kant), ein Gefühl der Unabhängigkeit und Hilfsbereitschaft, an das die Politik, wenn es ihr um den Bau einer freien Gesellschaft zu tun ist, positiv anzuknüpfen hat.

Es gibt keine Verpflichtung zu dieser Politik, ebenso wenig wie es eine Verpflichtung zum Mitleid gibt. Verpflichtungen weisen auf Gebote und Verträge zurück, und solche bestehen in diesem Fall nicht. Doch erkennt der Materialismus sowohl im Mitleid als in der nach vorwärts gerichteten Politik produktive Kräfte, die mit der bürgerlichen Moral geschichtlich zusammenhängen. Nicht bloss die ausdrücklichen Gebotsformen, sondern auch die Vorstellungen von Pflicht und metaphysischer Schuld, vor allem auch die Verlästerung der Lust und des Genusses üben nach ihm dagegen in der heutigen gesellschaftlichen Dynamik hemmende Wirkungen aus.

¹) Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 1932, S. 268 IT., bes. S. 274.

Die materialistische Theorie gewährt dem politisch Handelnden noch nicht einmal den Trost, dass er notwendig zum Ziele kommen müsse; sie ist keine Geschichtsmetaphysik sondern das sich verändernde Bild der Welt, wie es im Zusammenhang der praktischen Bemühungen um ihre Verbesserung sich entwickelt. Die Erkenntnis von Tendenzen, welche in diesem Bild enthalten ist, gewährt keine eindeutige Voraussage für den geschichtlichen Verlauf. Auch wenn diejenigen recht hätten, welche meinen, dass die Theorie sich „nur“ über das Tempo der Entwicklung und nicht über die Richtung täuschen könne — ein furchtbares „Nur”, denn es betrifft die Höllenqualen von Generationen — , könnte doch die bloss formal verstandene Zeit schliesslich umschlagen und die Qualität des Inhalts betreffen, das heisst, die Menschheit könnte, bloss weil der Kampf zu lange gedauert hat, auf frühere Stufen der Entwicklung zurückgeworfen werden. Doch es gäbe die blosse Gewissheit, dass jene Ordnung kommen müsse, allein auch nicht den leisesten Rechtsgrund dafür ab, aus dem sie zu bejahen oder zu beschleunigen wäre. Dass etwas auf der Welt Macht gewinnt, ist kein Grund, es zu verehren.
Der uralte Mythos der Herrschenden, dass das, was Macht hat, auch gut sein müsse, ist durch die Lehre des Aristoteles von der Einheit zwischen Realität und Vollkommenheit in die abendländische Philosophie übergegangen, der Protestantismus hat ihn im Glauben an Gott als Herrn der Geschichte und Ordner der Welt bekräftigt, und in der europäischen und amerikanischen Gegenwart ist das gesamte menschliche Leben davon beherrscht. Die blinde Anbetung des Erfolgs bestimmt die Menschen noch in der privatesten Lebensäusserung. Für den Materialisten bildet das Vorhandensein einer geschichtlichen Grösse allein oder die Chancen, welche sie hat, noch keinerlei Empfehlung. Er fragt danach, in welchem Verhältnis diese Grösse in einem gegebenen Zeitpunkt zu den von ihm bejahten Werten stehe, und handelt je nach der konkreten Situation. Dieses Handeln steht bei den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen unter dem Unstern, dass sich Mitleid und Politik, die beiden Formen, in denen das moralische Gefühl heute seinen Ausdruck findet, nur selten in ein vernünftiges Verhältnis bringen lassen. Rücksicht auf die Menschen der Nähe und der Ferne, Hilfe für den Einzelnen und für die Menschheit widersprechen sich zumeist. Selbst die Besten verhärten sich an einer Stelle ihres Herzens.

Die Einsicht, dass die Moral nicht bewiesen werden kann und auch kein einzelner Wert rein theoretischer Begründung fähig ist, teilt der Materialismus mit idealistischen Strömungen der Philosophie. Aber sowohl Ableitung wie konkrete Anwendung des Prinzips in der Wissenschaft sind ganz verschieden. In der idealistischen Philosophie steht es mit ihrer Lehre vom absolut freien Subjekt in notwendigem Zusammenhang. Ebenso wie das Subjekt — wenigstens nach den späteren Vertretern — die Erkenntnis aus sich selbst erzeugen soll, wird auch die Wertsetzung als subjektiv betrachtet. Grundlos entspringt sie dem autonomen Geist, dem „intellectus“. Schon Nikolaus Cusanus lehrt: „Ohne die Kraft der Beurteilung und des Vergleichens hört jegliche Schätzung auf, und mit ihr müsste auch der Wert wegfallen. Hieraus ergibt sich die Köstlichkeit des Geistes, da ohne ihn alles Geschaffene ohne Wert gewesen wäre” ¹). Wenn auch das autonome Subjekt nach Cusanus die Wesenheit des Wertes nicht selbständig erzeugt, so entscheidet es doch frei darüber, wie viel jedem Ding davon zukommt. Es soll in dieser Schöpfertätigkeit Gott ähnlich, gleichsam selbst ein anderer Gott sein. Seit Cusanus ist diese Lehre in Wissenschaft und Philosophie bestimmend gewesen. Nach ihr sind die Wertunterschiede der Dinge gar keine sachlichen, der Gegenstand ist an sich selbst wertindifferent. Die Wissenschaft kann zwar die wertsetzenden menschlichen Akte beschreiben, jedoch selbst darüber nicht entscheiden. In der modernen Methodenlehre wurde dieser Grundsatz als Forderung der Wertfreiheit formuliert. Für die Hauptrichtungen der idealistischen Philosophie mit Ausnahme der objektiven Werttheorien, die zumeist romantische, jedenfalls antidemokratische Tendenzen zeigen, ist die Ansicht Max Webers kennzeichnend, „dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen... Ohne alle Frage sind nun jene Wertideen ,subjektiv’“ ²). Zufolge dieser Lehre gilt daher in der idealistischen Philosophie und Wissenschaft jedes Werturteil als unerlaubt, ja es wurde in den letzten Jahrzehnten den Geistes- oder Kulturwissenschaften immer mehr zur Pflicht gemacht, das Material nicht im Zusammenhang mit grossen gesellschaftlichen Zielsetzungen aufzunehmen und zu entwickeln, sondern „theoriefreie” Tatsachen festzustellen und zu klassifizieren. Die Anwendung der früheren Zielsetzungen des Bürgertums, vor allem des grössten Glücks der Allgemeinheit, auf die Probleme jener Wissenschaften hätte notwendig in steigendem Mass zu Konflikten führen müssen.

¹) De ludo globi II, 236f., zit. nach Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Berlin 1927, S. 46.
²) Max Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1922, S. ISO u. 183.

In den ursprünglichen Werken des Bürgertums sind jene Gesichtspunkte noch durchaus massgeblich; selbst die Schöpfer des Positivismus haben sich im Gegensatz zu manchem späteren Schüler gegen die neutralistische Entartung der Wissenschaft gewehrt. „Die ,specialite dispersive’ des jetzigen Geschlechts der Gelehrten“, schreibt John Stuart Mill in seinem Werk über Auguste Comte, „die ungleich ihren Vorgängern einen tatsächlichen Widerwillen gegen umfassende Ansichten hegen und die Interessen der Menschheit jenseits der engen Grenzen ihres Berufs weder kennen noch beobachten, behandelt Herr Comte als eines der grossen und wachsenden Übel unserer Zeit und erblickt darin das Haupthindernis der moralischen und intellektuellen Wiedergeburt. Der Kampf dagegen ist eines der Hauptziele, denen er die Kräfte der Gesellschaft dienstbar machen möchte” ¹). Solche Stimmen sind gerade unter den fortschrittlichen Gelehrten unserer Tage sehr selten geworden; sie müssen froh sein, ihre Arbeit gegen die steigende Übermacht jener zu verteidigen, welche die Wissenschaft ohne Achtung vor Strenge und Lauterkeit durch Unterstellung unter fragwürdig gewordene Ziele hinter den erreichten Stand zurückführen und zur Sklavin der jeweils herrschenden Macht erniedrigen möchten. Jene Gelehrten leisten dadurch, dass sie die Wissenschaft und den Sinn für die Wahrheit vor der gegenwärtig eindringenden Barbarei zu bewahren suchen, der Zivilisation einen ähnlichen Dienst wie die Stätten, in welchen heute noch die echten bürgerlichen Werte für das öffentliche Bewusstsein durch die Erziehung in Ansehen gehalten werden ²).

Der Materialismus erkennt die unbedingte Achtung vor der Wahrheit als notwendige, wenn auch nicht als hinreichende Bedingung wirklicher Wissenschaft. Er weiss, dass aus der gesellschaftlichen und persönlichen Lage stammende Interessen, gleichviel ob sie der Urheber der Wissenschaft jeweils kennt oder nicht, die Forschung mitbestimmen. Nicht bloss bei der Wahl der Objekte sondern auch in der Richtung der Aufmerksamkeit und Abstraktion wirken im kleinen und grossen historische Faktoren. Das Ergebnis entspringt jeweils einem bestimmten Zueinander von forschenden Menschen und Gegenständen. Aber im Gegensatz zur idealistischen Philosophie führt der Materialismus die auf der Subjektseite wirksamen Interessen und Zielsetzungen keineswegs auf die unabhängige Schöpfertätigkeit dieses Subjekts, auf seinen freien Willen zurück, vielmehr werden sie selbst als Ergebnisse einer Entwicklung angesehen, an der subjektive und objektive Momente beteiligt sind?

¹) Gesammelte Werke, übers. von Gomperz, Leipzig 1874, Bd. 9, S. 67.
²) Vgl. z.B. die von Ed. Claparéde geführte Diskussion in der Sitzung der Societe francaise de Philosophie vom 12.3. 1932 (s. das Bulletin dieser Gesellschaft Juli, September 1932, erschienen bei Armand Colin in Paris).

Auch der Tauschwert in der Wirtschaft beruht nicht auf freier Schätzung, sondern ergibt sich aus dem Lebensprozess der Gesellschaft, in dem die Gebrauchswerte mitbestimmend sind. Der undialektische Begriff des freien Subjekts ist dem Materialismus fremd. Er ist sich auch seiner eigenen Bedingtheit wohl bewusst. Abgesehen von den persönlichen Nuancen ist sie in der Verbindung mit jenen Kräften zu suchen, die auf Verwirklichung der oben dargelegten Ziele gehen. Weil die materialistische Wissenschaft von diesen Zielen nirgends absieht, trägt sie nicht den Charakter scheinbarer Unparteilichkeit, sondern ist bewusst akzentuiert. Ihr kommt es nicht so sehr auf Originalität als auf Weiterführung der theoretischen Erfahrung an, die auf diesem Wege schon gemacht ist.

Dadurch dass er der Theorie im Gegensatz zur blossen Faktensammlung entscheidende Bedeutung zuerkennt, ist der Materialismus vom gegenwärtigen Positivismus getrennt, freilich nicht von der konkreten Forschung, die häufig zu den gleichen Erkenntnissen wie er selbst gelangt. Manche ihrer Vertreter haben das Verhältnis von Moral und Praxis zur Theorie auf Grund des Umgangs mit den gesellschaftlichen Problemen gut erfasst. „Loin que la pratique se deduise de la theorie, c’est la theorie qui, jusqu’à present, est une sorte de projection abstraite de la morale pratiquee dans une societe donnee, à une epoque donnee" ¹). Theorie ist ein Zusammenhang von Erkenntnissen, der aus einer bestimmten Praxis, aus bestimmten Zielsetzungen herrührt. Wer die Welt unter einheitlichem Gesichtspunkt betrachtet, dem zeigt sie auch ein einheitliches Bild, das sich freilich in der Zeit, der die handelnden und erkennenden Menschen unterworfen sind, verändert. Die Praxis organisiert schon das Material, das jeder zur Kenntnis nimmt, und die Forderung, theoriefreie Tatsachen festzustellen, ist falsch, wenn sie besagen soll, dass in den objektiven Gegebenheiten nicht schon subjektive Faktoren wirksam seien. Produktiv gefasst kann sie nur heissen, dass die Beschreibung wahrhaftig sei. Die erkenntnismässige Gesamtstruktur, von welcher aus jede Beschreibung ihren Sinn erhält und der sie wieder dienen soll, die Theorie gehört selbst mit zu den Bestrebungen der Menschen, die sie machen. Diese können entweder aus privaten Schrullen oder aus den Belangen nach rückwärts gewandter Mächte oder aus den Bedürfnissen der werdenden Menschheit hervorgehen.

¹) Levy-Bruhl, La morale et la science des moeurs, 9. Aufl. Paris, 1927, S. 98.

 


 

Zur Einordnung:

Max Horkheimer wurde 1930 zum Ordinarius für Sozialphilosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt benannt. Von da an, bis zu dessen Schließung nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933, war er auch Direktor des Instituts für Sozialforschung. Horkheimer emigrierte und wurde direkter Nachbar von Thomas Mann in Los Angeles. Sein engster Mitarbeiter und Freund Theodor W. Adorno folgte ihm wenig später. Ende der 40ger Jahre kehrte Horkheimer an die Universität Frankfurt zurück, ihrem Ruf auf den Doppellehrstuhl für Philosophie und Soziologie folgend. „Er wollte Möglichkeiten zu praktischer Einflussnahme auf historische Entwicklungen nutzen, und in Deutschland sah er einen Schauplatz wichtiger Weichenstellungen.“

Horkheimer war Begründer und Herausgeber der Zeitschrift für Sozialforschung (1932–1939), fortgesetzt als Studies in Philosophy and Social Science (1940–1942). Als spiritus rector kam er mit einer Gruppe von gleichgesinnten Leuten zusammen, die man dann gerne als den „Horkheimer-Kreis“ und später auch noch als die “Frankfurter Schule” etikettierte.

Horkheimer gilt als Begründer und, gemeinsam mit Adorno, als Protagonist der Frankfurter Schule und Hauptvertreter der Kritischen Theorie, einer von Hegel, Marx und Freud inspirierten Gesellschaftstheorie. Zum engeren Zirkel gehörten in den Jahren vor der Emigration Erich Fromm, Leo Löwenthal und Herbert Marcuse; mit Walter Benjamin, obwohl kein direkter Mitarbeiter des Instituts, bestand ein über Adorno vermittelter intellektueller Austausch.

Er wurde 1895 in Stuttgart geboren und verstarb 1973 in Nürnberg.

[Ein unter starker Zuhilfenahme der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Horkheimer verkürzter Lebenslauf.]

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