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Frost und Hölle! Von Schildkröten und ihren Bedürfnissen

Mär 2023
10

Leicht skeptisch, etwas trotzig, aber gleichmütig, mit gehobenen Brauen, blickt sie in die Kamera.
Das Leben hat sich in diesem Gesicht verarbeitet; Zäh wie Leder, einer alten Schildkröte gleich.
Ihr Haupt umrundet ein Geflecht aus leuchtendem Krepp. Die Augen, - fern, und wässrig müde. Blickten sie doch allzu lang schon in die Welt und sahen wilde Zeiten rollen; - kommend, - gehend.
Sie haben ausgesehen; ihren Dienst verrichtet!

128 Jahre sind eine lange Zeit. Johanna Mazibuko lebte in der britischen Kolonialzeit, sah die selbstverwalteten Anfänge der Afrikanischen Union, überlebte die schreckliche Zeit der Apartheit und feierte Nelson Mandela, der ein ganzes Volk glücklich in einen afrikanischen Traum zur Befreiung führte. Die Buren wären, ob der begangenen Greuel und hinterlassenen Wut, sicher zu Tausenden abgeschlachtet worden, hätte Mandela nicht seine schützende Hand erhoben und einen schmerzvollen Aufarbeitungs- und Heilungsprozess in Gang gesetzt.
Sie hat auch diesen überlebt und begriff, dass große Ideen und große Führer, wie es Mandela sicher gewesen ist, ihre Ausstrahlung verlieren und verblassen, sobald die Macht an die Kleptomanen und Egomanen übergeht, im ewigen Spiel um Geld und Macht.

Was wollen sie? Anerkennung! Und bekommen sie diese nicht über Menschlichkeit und Verständnis, über ein sorgsam angeeignetes Charisma und geistiger Strenge gegenüber sich Selbst, kehrt sich mancher schnell in das genaue Gegenteil und verfolgt Andersdenkende mit brutalster Härte. Das Gesetz des Dschungels, der Savanne, unserer Ahnen; Sieger ist wer überlebt!
Moral und Anstand sind für Schwächlinge! Wer zu essen hat, hat Recht!

Rede ich von Afrikanern, die bis heute, in plötzlichen Anfällen von archaischer Wut, immer noch nicht gelernt haben sich nicht gegenseitig umzubringen, die Macheten zu schwingen, kleine Kinder zu brutalsten Mördern abzurichten? Nicht unbedingt! Denn dieses Gen steckt in uns allen! Wohnen sie denn in den heißen Gegenden des globalen Südens, oder in den sibirisch kalten Nordländern; im Westen, wie im Osten. Einerlei!
Mit dem Tauen des Permafrostes kommen diese Gewohnheiten und Gewissheiten wieder zum Vorschein. Eiswürmer des Grauens!

Mächtige Narrative einer wagen Idee kommen sich ins Gehege. Freiheit gegen Bevormundung! Beide haben Recht, in ihrer eigenen Weise. Weder sind die Menschen fähig in völliger Freiheit zu leben und zu handeln, denn es macht sie zu Egoisten. Das Gesetz der alten Gene. Noch aber sind sie nur fremdgesteuerte, willfährige Diener, die in beschränkter Amnesie hordengleich jedem Schwenk ihrer geistigen Ordnung und Kaisers folgen. Sie müssen sich aber darüber hinaus entwickeln. Konsum oder Zwang werden nicht lange als Ersatz taugen. Sie sind zu billig und taugen nicht für den inneren Fortschritt!
Regeln und Ordnung brauchen beide. Manipuliert werden beide Systeme, so dass sie am Ende nur noch Hüllen sind, in denen die Puppenspieler ihre Machtspiele spielen.

Ich rede nicht von den wenigen Ausnahmen. Den Menschen die sich entwickeln. Die gelernt haben all die Teile der vorherigen Erfahrungen und Konsequenzen zu einem Teil ihres künftigen Handelns und ihrer Werte zu machen. Die Freiheit sich zurückzunehmen für die Freiheit des Anderen. Ein steiniger Weg und auch schwieriger Anspruch in der Entwicklung des Menschen. Und nur wenn ein genügend großer Teil diesem Anspruch genügt, ist die Menschheit bereit die nächste Stufe ihrer Evolution zu nehmen.

Wir sind an einem Kipppunkt. Mit ihrer Maßlosigkeit und Ignoranz hat es die Menschheit geschafft die alten Geister wiederzuerwecken.
Das Eis schmilzt. Säbelzahntiger und Scharen von Schädlingen kriechen empor, bereit sich in die giftige Schlacht zu werfen. Die Jahrhunderte der Aufklärung und des Humanismus werden in ihren eigenen Staub zurückgeworfen. Die Saat scheint nicht angegangen. Haben zu viele der Gärtner ihren Job gekündigt, oder gar ob des plötzlichen Wassermangels resigniert? Die jungen Pflanzen vergilben, verdorren. Doch gerade dort brauchen wir am allernötigsten Hilfe um die wiedererweckten Scharen der Vergangenheit in den Griff zu bekommen. Sonst kann der wildgewordene Säbelzahntiger gleich seine irren Atomdrohungen wahrmachen und die Welt in den totalen Abgrund zurückbomben. Die Brasiliens, Indiens und Chinas dieser Welt werden sich schön wundern, dass sie doch auf der selben Erde leben (wollten)!
Ich bin nicht Willens diesen Irren unwidersprochen freie Bahn zu geben, nur damit ich meine Ruhe habe!

Vielleicht sind die großen Länder und Systeme nicht fähig zur Erneuerung. Erneuerung braucht engagierte Menschen. Menschen die dort anfangen wo sie selber sind oder sich einbringen und kleine selbstverwaltete Gemeinschaften bzw Gemeinschaftsstrukturen neu denken und erfinden.

Bei all den schlechten Nachrichten die immer gehäufter auf einen niederprasseln und einem jeglichen Optimismus rigoros vertreiben, sind es diese kleinen Nachrichten einzelner Menschen oder lokaler Gruppen, die einfach anfangen es besser zu machen. Sei es an den Küsten rund um den Indischen Ozean mit der Wiedergewinnung von Nachhaltigkeit durch Schonung der Fischbestände und Aufforstung der weggeholzen Mangroven, alles initiert von einer kleinen Gruppe sehr engagierter Menschen mit einer klaren einfachen Idee, Eden Reforestation Projects, die die Küstenmenschen befähigt ihre direkte Umwelt nachhaltig und damit zukunftssicher zu bewirtschaften, oder in der Sahelzone mit der schlichten Idee der “unterirdischen Wälder”, die zum Leben wieder erweckt werden können, angeleitet von einem Australier, Tony Rinaudo, mit einer ebenso klaren und einfachen Idee, der Befähigung. Eines Auswegs!
Kein Geschwafel, kein Gerede. Keine langatmigen Konferenzen, keine kurzatmigen Gelder aus Entwicklungstöpfen. Einfach klares, ideengesteuertes Handeln, im Einklang mit der Natur.
Bravourös! Ich ziehe den Hut tief und verbeuge mich vor Scham!

Wir aber leben in Systemen die bis zur Erstarrung in Gesetzmäßigkeiten stecken, die keinerlei Bewegung mehr zulässt. Alles ist geregelt, zerregelt!
Zu viele Köche verderben den Brei. Schaue ich auf das Schulsystem in Deutschland wird einem ganz bang. Alle wollen und sehen die Notwendigkeit, aber keiner ist fähig wirklich etwas zu verändern oder Neues zu probieren. Alles erstarrt in den gewordenen Regelungen. Finnland, noch vor Jahren so hochgelobt, hat es vorgemacht. Horden von Besuchern aus aller Welt haben es sich immer und immer wieder angesehen und die Erfolge gesehen. Was ist davon geblieben? Sie müssen resigniert haben, denn heute redet keiner mehr davon. Und so blieb alles beim Alten. Hauptsache ist, dass alle was zu reden haben.

Bei Weitem kein Einzelfall! Mit der Digitalisierung ist es doch ebenso. Hehre Ziele, die im Nichts verpuffen. Warum? Weil die Regelungswut und die “German Angst” alles zerstört.
Ich ertappe mich selbst als einen derjenigen, die wegen wohlgemeinter und nicht unbegründeter Sorge vor den Gefahren warnen und zögern. Die aus bitterer Erfahrung den mauschelhaften Vergabepraktiken unserer Politiker mißtrauen. Denn sie treffen grundsätzlich auf Räuber. Räuber die sich häuslich in den Lobbyfluren der Regierungen niedergelassen haben. Kein Gemeinwohlgedanke steht im Vordergrund. Nur Bereicherung. Qualität und Schlichtheit sind nicht erwünscht. Sie bringen kein Geld.
Zunehmend muß ich also auch mich selbst in Frage stellen, ob diese Art des zögerlichen Handelns noch angebracht ist. Kleinere Länder wie Dänemark und andere machen es einfach vor.

Zwanzig Jahre zögern aus Sorge, sind ein viel grundsätzlicherer Verlust als das einfache und konsequente Heben des Schatzes. Wenn ich an all die Projekte zurückdenke, die ich im Laufe meines langen Lebens, - Johanna Mazibuko vergebe mir -,  bewußt wahrgenommen, als politisch anvisiert und dann nicht oder nicht konsequent genug verwirklicht gesehen habe, so fallen mir fast keine Gegenteiligeren mehr ein. Und ich muß zugeben, ja bekennen, dass wir den Stillstand mehr zu schätzen scheinen als den Fortschritt.

Wir sind zu faul und zu behäbig! Traurig. Wir werden gefressen von den Gierigen die sich 120 Millionen für eine App bezahlen lassen, oder ihre Verträge wohlweislich unter Geheimverschluss stellen lassen. Wenn man Ihnen wenigstens da auf die Finger sehen könnte, würde ihr Gebaren offenbar.
Auf dem armen Mann wird viel und ungerecht herumgehauen. Aber Karl Lauterbach macht es richtig. Zwanzig Jahre (zer-)reden für nichts. Jetzt ist Schluss!

Ich wünschte, wir könnten einfach alle mal die Klappe halten. Ein, zwei Jahre. Und in der Zeit bauen wir alle wie verrückt. Schulen, Windräder, Zugstrecken, auch Autobahnen wenn es unbedingt sein muss, Stromleitungen, Tunnel, Wohnungen, und bestellen endlich einfach und schlicht das Material was uns fehlt. Jetzt! Ohne den ganzen Klimbim! Macht die Beschaffungsämter dicht derweil und gebt den Leuten zwei Jahre bezahlten Urlaub. Sie sollen nachdenken, wie wir zu mehr Schlichtheit und Einfachheit zurückkehren.

Mit diesen Worten legte sich die alte Schildkröte nieder und sagte: Es ist getan! Solvitur ambulando!
Sie freute sich insgeheim ihren alten Ofen endlich wieder in Gang zu setzen und sich das erste leckere Essen nach langer Zeit zu kochen.

Wenn eine positive Formulierung für das Optimum gewonnen wird, rücken die nihilistischen Irrlichter an den Rand. Die Vorfreude darauf, was aus einem normalen Leben heraus erreicht werden kann, würde so stark werden, dass die Leuchtfeuerwirkung eines Bildungsideals für das kybernetische Zeitalter die Menschen aus der aktuellen Lethargie zöge.

Peter Sloterdijk

Wiederbegegnung mit einem Meister

Jul 2020
24

Was bleibt ist der arme Poet. Der große Westen mit seiner Idee hat sich überlebt und sein großer Bruder im Osten ebenso. Es fehlt weiterhin die Idee der Mitte. War es doch einst die Chance der EU, getragen aus den Kriegen, die erst die Staaten formten, dann die Einsicht. Heute ist Zerfall das Schlüsselwort. Einsicht sucht man vergebens. Alles ist geprägt von Machtinteressen und Egoismen.
Teppichhändler, Gaukler, Warenströme // Ein Husar wer anderes dächte und erhoffte // Dem Guten, dem Wahren und dem Schönen // Ja, so wird es uns gelehret // soll Geist - soll Kunst, Kommerz bekehren // Seinem Dasein höher`n Sinn verleihen // wo üble Teufel Gall und Gift verspeien // Doch niedere Sinne machten aus Erkenntnis Gift // Strategen nutzen es mit spitzem Stift // Unfriede herrscht, was einst vereinen sollt // der Mensch Geschlecht - zum Ziel ausrollt // Einst stieg Zeus selbst, geformt als Stier // zum Mensch hinab und raubte ihm Europe // Heut trottet dieser in der Grube // gelähmt, sein kühner Flügelschlag im Pfluge // Schon fast zerrieben unter dem Geknirsche // verdrehter Wahrheit, liegt die Kirsche // Was also blieb von der IDEE? // Nichts. Nada, weiß Papier - ein Traum aus Schnee!

Pegasus im Joche

Auf einen Pferdemarkt – vielleicht zu Haymarket,
Wo andre Dinge noch in Waare sich verwandeln,
Bracht’ einst ein hungriger Poet
Der Musen Roß, es zu verhandeln.

Hell wieherte der Hippogryph,
Und bäumte sich in prächtiger Parade;
Erstaunt blieb Jeder stehn und rief:
Das edle, königliche Thier! Nur Schade
Daß seinen schlanken Wuchs ein häßlich Flügelpaar
Entstellt! Den schönsten Postzug würd’ es zieren.
Die Race, sagen sie, sey rar,
Doch wer wird durch die Luft kutschieren?
Und keiner will sein Geld verlieren.
Ein Pächter faßte endlich Muth.
Die Flügel zwar, spricht er, die schaffen keinen Nutzen;
Doch die kann man ja binden oder stutzen,
Dann ist das Pferd zum Ziehen immer gut.
Ein zwanzig Pfund, die will ich wohl dran wagen;
Der Täuscher, hoch vergnügt die Waare loszuschlagen,
Schlägt hurtig ein. „Ein Mann, ein Wort!“
Und Hans trabt frisch mit seiner Beute fort.

Das edle Thier wird eingespannt;
Doch fühlt’ es kaum die ungewohnte Bürde,
So rennt es fort mit wilder Flugbegierde
Und wirft, von edelm Grimm entbrannt,
Den Karren um an eines Abgrunds Rand.
Schon gut, denkt Hans. Allein darf ich dem tollen Thiere
Kein Fuhrwerk mehr vertraun. Erfahrung macht schon klug.
Doch morgen fahr’ ich Passagiere,
Da stell’ ich es als Vorspann in den Zug.
Die muntre Krabbe soll zwei Pferde mir ersparen;
Der Koller gibt sich mit den Jahren.

Der Anfang ging ganz gut. Das leichtbeschwingte Pferd
Belebt der Klepper Schritt, und pfeilschnell fliegt der Wagen,
Doch was geschieht? Den Blick den Wolken zugekehrt,
Und ungewohnt, den Grund mit festem Huf zu schlagen,
Verläßt es bald der Räder sichre Spur,
Und, treu der stärkeren Natur,
Durchrennt es Sumpf und Moor, geackert Feld und Hecken;
Der gleiche Taumel faßt das ganze Postgespann,
Kein Rufen hilft, kein Zügel hält es an,
Bis endlich, zu der Wandrer Schrecken,
Der Wagen, wohlgerüttelt und zerschellt,
Auf eines Berges steilem Gipfel hält.

Das geht nicht zu mit rechten Dingen!
Spricht Hans mit sehr bedenklichem Gesicht.
So wird es nimmermehr gelingen;
Laß sehn, ob wir den Tollwurm nicht
Durch magre Kost und Arbeit zwingen.
Die Probe wird gemacht. Bald ist das schöne Thier,
Eh noch drei Tage hingeschwunden,
Zum Schatten abgezehrt. Ich hab’s, ich hab’s gefunden!
Ruft Hans. Jetzt frisch, und spannt es mir
Gleich vor den Pflug mit meinem stärksten Stier!

Gesagt, gethan. In lächerlichem Zuge
Erblickt man Ochs und Flügelpferd am Pfluge.
Unwillig steigt der Greif und strengt die letzte Macht
Der Sehnen an, den alten Flug zu nehmen.
Umsonst, der Nachbar schreitet mit Bedacht,
Und Phöbus stolzes Roß muß sich dem Stier bequemen,
Bis nun, vom langen Widerstand verzehrt,
Die Kraft aus allen Gliedern schwindet,
Von Gram gebeugt das edle Götterpferd
Zu Boden stürzt, und sich im Staube windet.

Verwünschtes Thier! bricht endlich Hansens Grimm
Laut scheltend aus, indem die Hiebe flogen.
So bist du denn zum Ackern selbst zu schlimm,
Mich hat ein Schelm mit dir betrogen.

Indem er noch in seines Zornes Wuth
Die Peitsche schwingt, kommt flink und wohlgemuth
Ein lustiger Gesell die Straße hergezogen.
Die Cither klingt in seiner leichten Hand,
Und durch den blonden Schmuck der Haare
Schlingt zierlich sich ein goldnes Band.
Wohin, Freund, mit dem wunderlichen Paare?
Ruft er den Baur von weitem an.
Der Vogel und der Ochs an einem Seile,
Ich bitte dich, welch ein Gespann!
Willst du auf eine kleine Weile
Dein Pferd zur Probe mir vertraun?
Gib acht, du sollst dein Wunder schaun.

Der Hippogryph wird ausgespannt,
Und lächelnd schwingt sich ihm der Jüngling auf den Rücken.
Kaum fühlt das Thier des Meisters sichre Hand,
So knirscht es in des Zügels Band,
Und steigt, und Blitze sprühn aus den beseelten Blicken.
Nicht mehr das vor’ge Wesen, königlich,
Ein Geist, ein Gott, erhebt es sich,
Entrollt mit einem Mal in Sturmes Wehen
Der Schwingen Pracht, schießt brausend himmelan,
Und eh der Blick ihm folgen kann,
Entschwebt es zu den blauen Höhen.

Friedrich Schiller

Schritt für Schritt - oder das Tellerrandphänomen!

Mai 2019
14

“Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.”

Jean-Claude Juncker in: Die Brüsseler Republik, Der Spiegel, 27. Dezember 1999, festgehalten in wikiquote

 

Jean-Claude Juncker und sein Aufruf als Kantischer Imperativ... 2019 zur Europawahl

Nach diesem „Mea Culpa“ gibt Juncker auch noch eine Empfehlung für die Europawahl ab. „Bitte fragen Sie sich, was passieren würde, wenn alle so abstimmen wie Sie. Wie würde Europa aussehen, wenn alle rechtsextrem wählen?“ Es ist eine rhetorische Frage, man muss sie nicht beantworten.

8. 5. 2019, https://www.taz.de/Bilanz-ueber-Junckers-Rolle-in-der-EU/!5591833/

Ja! Doch!! Ich blicke mit Sorge auf die kommenden Zeiten.
Brüssel und die Europapolitik sind so fern, dass sich einfach zu wenig Menschen die Mühe machen ihr zu folgen, sie in ihr unmittelbares Sichtfeld zu zwingen. Deshalb ist es allerorten ein beliebter Volkssport, alles was aus Brüssel kommt als hanebüchen und nicht relevant zu betrachten. Nur so kann man erklären, dass es diese ominösen 20-30 Prozent gibt, die ohne zu zögern selbsterklärte Europafeinde ins Parlament wählen, die wir alle bezahlen und aushalten müssen. Solche mit dem verniedlicheren Begriff “Populisten” zu verharmlosen, ist naiv! Sie sind Demagogen und Feinde und gehören offensiv bekämpft. Europa ist doch so viel mehr als das beliebt zitierte “I want my money back”, dem Geben und Nehmen derjenigen Völker, die sich unter einer Idee zusammengefunden haben, dass die nationalstaatliche “Kleinstaaterei” einen idealen Überbau benötigt, alleine schon um der Hybris entgegenzuwirken, die einzelne Staaten und ihre Lenker von Zeit zu Zeit überfällt. Diese Idee ist das, was das “über den Tellerrand schauen” idealisiert und gleichzeitig (mühsam) realisiert. Wir lernen, dass die Nachbarn die gleichen oder ähnliche Probleme haben, wir lernen, dass Wasser und Luft keine Grenzen kennen, dass politische und wirtschaftliche Entscheidungen unmittelbare Auswirkungen haben, die an Ländergrenzen nicht halt machen. Wir müsssen uns zwingen wieder mehr auf das Ideelle dieser Idee zu schauen, nicht auf den Selbstbedienungsladen Europa, vor dem man sich zu Recht manchmal angewidert zurückziehen möchte. Es gibt zu Recht so viel zu kritisieren an Europa. Diesem Tanker zuzuschauen, der quasi ohne erkennbare Reaktion auf das vermeintlich hektische Umsteuern auf der Brücke reagiert. Die einfachste Reaktion des Bürgers ist, sich zurückzuziehen und sein Heil in verwaschenen Ansichten alter Zeiten zu suchen. Hier setzen die Demagogen an. Sie nehmen dieses obskure Gefühl auf und verwandeln es in einfache simple Ideen und “hast du nicht gesehen” sind sie (- die Wähler -) gefangen in Ideologien, die aus der politischen Mottenkiste stammen. Da sie sich und ihre Gedanken nicht selbst bestimmen, verstummen sie zum Fußvolk dieser Demagogen und Feinde einer überpersönlichen Idee.
Die anderen sind doch nicht besser; genießen sie die Vorzüge des Europa im Konkreten doch als inzwischen so selbstverständlich, dass sie, wie der sprichwörtliche Frosch im Kochtopf, das immer wärmer werdende Wasser nicht bemerken und keinerlei geeignete Reaktion zeigen ihrem zwingenden Dilemma zu entkommen. Stattdessen neigt man dazu, zu verharmlosen, diejenigen zu beschimpfen, die einen explizit aus dem Lehnstuhl in die konkrete Haltung zwingen wollen.

Das ist doch das was so kritisierbar am Politikbetrieb ist. Alles wird so lang gewendet und besprochen, bis man an dem Punkte ist sich möglichst wenig zu bewegen, denn es könnte ja das innere Gefüge, die Wirtschaft beschädigen. An ihr hängt, wie der Tropf am Hahn, das Wohl und Wehe, die Finanzierung, die eigene politische Zukunft, die Wiederwahl. Jahre vergehen, bis aus den kleinen Reaktionen richtungsbestimmende Fahrtänderungen werden. Man rettet die Autoindustrie, aber vergißt das Weltklima. Alle wollen, aber tun es nicht wirklich. Kinder, in ihrer zu Recht versimplifizierenden reaktionären Ansicht, erkennen den Unterschied zwischen konsequenten Handeln und verwaschenener “sowohl-als-auch” Haltung. Es ist eine Frage der Lobby; denn Diese ist zu stark in den Händen von Interessen! Diese (eher kurzfristigen) Interessen verhindern alles was die unmittelbare und konsequente Veränderung bewirkt. Aus großen Ideen werden immer kleinere Teilstücke gehackt, die am Status quo nichts wirklich verändern, bzw. so langsam, dass die Idee dabei oft auf der Strecke bleibt. Politik ist der Ausgleich von Interessen. So sieht sie sich selber. An diesen Lobbyverbänden scheitert aber die Idee per se, denn sie, die hochbezahlten Lobbyisten, bearbeiten die Entscheidungsträger in künstlichen Blasen, so lange, bis diese ihre Blasen als ihre unmittelbare Existenz- und Erfahrungswelt, aus der sie dann ihre “eigenen” Entscheidungen fällen, ansehen. Sie sind nicht böse an sich, aber sie bewirken es mitunter! Dabei können sie das gar nicht selbst begreifen, denn dazu müsste man ja über den eigenen Tellerrand schauen.

Aus diesem Grunde soll uns heute ein Text begleiten, der das “Über den Tellerrand schauen” schon zu einer Zeit betrachtete, als Deutschland sich anschickte, mit unfassbarer Glut dasjenige Höllenfeuer neu zu entfachen, das schon mit dem ersten Weltkrieg Europa ein Ende der alten Ordnung, der alten Ideen aufzeigte. 1933 war das Jahr, in dem das zarte Pflänzchen einer ersten deutschen Demokratie überrannt wurde von den Demagogen, die die Schwäche der Politiker, die Streitereien unter den Parteien, die Schwächen der sozialen Ordnung, die Unbekümmertheit der Feiernden ausnutzte und innert kürzester Zeit keinen Stein mehr auf dem anderen ließen. Wozu Völkerbund, die alte Schwatzbude, wenn der Wille des Einzelnen ganze Staaten in die Knie und die Welt in den Abgrund zwingen kann.Wir wollen selbst bestimmen.” Alles Parolen, die einem auch heute mehr als bekannt vorkommen...

Wohlan denn. Wer noch des Lesens mächtig, sollte sich beherzt diesen wunderbaren Text von einer erhöhten Warte zu Gemüte führen. Denn wir alle stehen doch auf den Schultern von Riesen; wir müssen sie nur verstehend lesen!

MAX HORKHEIMER - Materialismus und Moral - 1933

Vielleicht hilft es, die Zeit nicht verstreichen zu lassen und eine Wahl zu treffen, eine gute WAHL!